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Archiv-Artikel

Vollgas Richtung Normalität

Nirgendwo wird mehr Bus und Bahn gefahren als in Berlin. Der Trend zum Auto ist aber auch hier unübersehbar. Nur noch 41 Prozent aller Haushalte ohne Pkw, vor vier Jahren waren es noch fast 50

von JÜRGEN EICHEL

Im Vergleich der Bundesländer weist Berlin die stärkste Nutzung von Bahn und Bus und den höchsten Anteil autofreier Haushalte auf – aber auch hier geht der Trend deutlich Richtung Auto. Vor vier Jahren war noch jeder zweite Haushalt in Berlin ohne eigenen Pkw, heute sind es nur noch 41 Prozent. Das geht aus der bundesweit größten Erhebung zum Mobilitätsverhalten hervor. Die Untersuchung wurde vom Bundesverkehrsministeriums in Auftrag gegeben, erste Ergebnisse liegen nun vor.

Kern der Studie war die Erfassung aller Wege außer Haus an einem Stichtag – vom kurzen Fußweg zum Einkaufen über die Fahrt zum Arbeitsplatz mit Pkw oder Bahn in die Innenstadt bis zur Radtour aufs Land. Dafür wurden im vergangegen Jahr bundesweit insgesamt rund 130.000 Personen in über 50.000 Haushalten ausführlich befragt, in Berlin waren es 1.354 Haushalte. Für die Durchführung der „kontinuierlichen Erhebung zum Verkehrsverhalten“ (Kontiv) zeichnen das infas-Institut in Bonn und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin verantwortlich.

„Deutlich wird: Das Auto ist weiter auf dem Vormarsch“, erklärt Robert Follmer, Projektleiter beim Bonner infas-Institut. Bundesweit war bei 61 Prozent der Wege das motorisierte Fahrzeug erste Wahl. Bahn und Bus (7,7), Fußwege (22,6) und Radfahrten (8,7) folgen mit großem Abstand. Man könnte auch sagen: Staus hin, Klimawandel her, steht der fahrbare Untersatz vor der Tür, wird er auch genutzt.

Etwas anders ist die Situation in den Stadtstaaten: So werden in Berlin nur 43 Prozent der Wege mit Auto oder Motorrad erledigt, aber 21,5 Prozent mit Bahn und Bus – fast dreimal mehr als im Bundesdurchschnitt. Damit bestätigt Berlin seinen Ruf als „Bus-und-Bahn-Hauptstadt“. Während bundesweit nur ein Viertel der Befragten ab 14 Jahre angaben, mindestens einmal pro Woche Bahn und Bus zu nutzen, sind es in Berlin 57 Prozent (Hamburg: 53, Bremen 46).

Ausbaufähig scheint in Berlin die Nutzung des Fahrrades: Hier wird nur auf 7,3 Prozent der Wege gestrampelt. Das ist deutlich weniger als bei den Spitzenreitern Bremen und Brandenburg (jeweils rund 17 Prozent) und liegt sogar noch unterm Bundesschnitt (8,7 Prozent).

Der Vergleich mit der Haushaltsbefragung im Auftrag der BVG, die 1998 in Berlin nach demselben Muster durchgeführt wurde, zeigt auch für die Hauptstadt einen deutlichen Trend zum Auto. So ermittelte die BVG vor vier Jahren einen Pkw-Anteil von 39,5 Prozent, Bus und Bahn kamen auf 26,9 Prozent – rechnet man Park & Ride und Bike & Ride dazu, sogar auf über 28 Prozent. 22 Prozent der Befragten bewegten sich damals zu Fuß, 10 Prozent mit dem Rad.

Der jetzt ausgewiesene höhere Fußwege-Anteil lässt sich zum Teil durch die Methode erklären: So wurde bei Kontiv 2002 nicht nur telefonisch nach einzelnen Wegen gefragt, sondern ein eigener Fragebogen für Kinder entwickelt. Kurze Fußwege, etwa zum Spielplatz, dürften so verstärkt auftauchen.

Andere Erkenntnisse bestätigen hingegen deutlich die Verschiebung zu Lasten des öffentlichen Verkehrs. So weist Berlin mit 41 Prozent zwar den mit Abstand höchsten Anteil autofreier Haushalte auf – 1998 waren es aber noch 49 Prozent. In der BVG-Befragung war zudem von 2,96 Millionen Fahrten mit Bahn und Bus pro Werktag die Rede – Kontiv kommt vier Jahre später auf nur noch rund 2,6 Millionen. Die Zielvorgabe des Berliner Nahverkehrsplans von über 3 Millionen Fahrten für 2004 dürfte so kaum erreicht werden, wenn nicht entschieden gegengesteuert wird.

Dass dies geschehen sollte, hat der erst Anfang Juli vom Senat beschlossene Stadtentwicklungsplan Verkehr (StEP) benannt: Nicht zuletzt die ab 2005 einzuhaltenden EU-Grenzwerte zeigten für Berlin „erheblichen Handlungsbedarf zur Minderung der verkehrsverursachten Luftschadstoffbelastung“. Offen jedoch ist, mit welchen Maßnahmen das erreicht werden kann – und welche davon umgesetzt werden.