Ulle statt Ulla

Powered by Emotion: Ob bei den Öffentlich-Rechtlichen oder den Privaten, die Nachrichten werden immer unpolitischer, das Bild verdrängt den Text

von SILVIA HELBIG

Schön, wie der Ulle auf den Lance gewartet hat. Das wollen wir sehen: Emotionen, Sensationen, Konflikte. Was wir gar nicht gern sehen: welches Gemauschel uns Ulla Schmidt und Horst Seehofer als Gesundheitsreform verkaufen wollen. Das gibt nur Magengeschwüre, das können wir uns bald nicht mehr leisten. Und Zwickel, die alte Heulsuse – bloß gut, dass der endlich abtritt. Wer braucht heutzutage noch Gewerkschaften? Sind doch eh alle arbeitslos.

So oder ähnlich müssen die Redakteure der „Tagesthemen“ vom 21. Juli 2003 die Informationsgelüste der Zuschauer eingeschätzt haben, als sie sich für die Tour de France als Aufmacher entschieden. Obwohl zwei wichtige innenpolitische Entscheidungen anstanden – die Präsentation der Gesundheitsreform und der Rücktritt des IG-Metall-Chefs Klaus Zwickel – wurde die Sportnachricht das Top-Thema des Tages. Verkehrte Welt?

Kommunikationsforscher stellen den Nachrichten im deutschen Fernsehen eine bedrohlich klingende Diagnose: den „Rückgang der politischen Berichterstattung, einhergehend mit Tendenzen der Boulevardisierung, korrespondierend mit dem gesellschaftlichen Trend zu mehr Spaß und Unterhaltung“. Im Klartext: weniger Information, mehr Entertainment – diese bedenkliche Entwicklung belegt die von der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene Studie „Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen“.

Wissenschaftler verschiedener Universitäten haben darin die Hauptnachrichtensendungen aller relevanten Programme von 1992 bis 2001 untersucht. Zusätzlich wurden Journalisten befragt, nach welchen Faktoren sie Nachrichten auswählen.

Kein Bild, kein Konflikt

Die Ergebnisse: Der Rückgang politischer Meldungen erfolgt demnach zugunsten von Emotionen, Sensationen und wachsender Orientierung am Zuschauer. Außerdem hat sich der Anteil an Gewaltdarstellungen erhöht. Statt vorgelesener Nachrichten werden mehr Bildbeiträge gesendet. Die schnellere Bildübertragung bedeutet für die Arbeit der Fernsehjournalisten eine bessere Auswahl an Material, birgt aber auch eine große Gefahr: Nachrichten, zu denen keine Bilder existieren, fallen weg. Wo keine Kamera ist, gibt es auch auch keinen Konflikt.

Katastrophen kommen im Fernsehen nun mal besonders plastisch rüber, weshalb der Faktor Visualität in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Kein Radiobericht und kein Zeitungsartikel kann die emotionsgeladenen Bilder von Erdbeben, Unfällen oder Sportereignissen ersetzen. Politik hingegen sieht immer gleich öde aus. Ältere Herren steigen aus schwarzen Limousinen und betreten Häuser, reden in Sälen oder ziehen Akten aus Schränken. Das will niemand sehen. Weshalb die privaten Sender auch weitestgehend auf Politik verzichten (im Jahre 2001 betrug der Anteil an Unterhaltung bei den Nachrichten der Privaten fast 50 Prozent).

Doch auch die öffentlich-rechtlichen Sender brauchen Quote – und setzen vermehrt auf „soft news“. So machte „ZDF heute“ am 8. Juli diesen Jahres mit dem Tod der siamesischen Zwillinge Laleh und Ladan Bijani auf. Tragisch, aber ein eindeutig buntes Thema. Der Aufmacher der ZDF-„heute“-Sendung vom 26. April: Bayern München wird vorzeitig deutscher Meister. Der Nachrichtengehalt: weder überraschend noch politisch.

Laut Studie droht den deutschen Nachrichten die Amerikanisierung (viel Service, kaum Politik). Mit dem Ergebnis, „dass nennenswerte Publikumssegmente von komplizierten politischen und militärischen Konflikten wenig wissen, diese kaum verstehen und mit ihnen auch nicht konfrontiert werden möchten.“ Genau. Wir wolln den Ulle sehn, wir wolln den Ulle sehn …

„Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen“. Hrsg. v. Georg Ruhrmann u. a., Leske+Budrich, 2003