Der Geruch von Freiheit und Abenteuer

Kunst für Daheimgebliebene (2): Land-Art. Wer in aller Herrgottsfrüh aufsteht und mit einem Geruchstester über Land fährt, tastet sich mit diesem an der äußerst fragilen Grenze zwischen Natur und Kultur entlang und lernt dabei Interessantes und Ungeahntes über die Provinz als Kunstobjekt

Geruchstester sind behördlich beauftragt, zu riechen, wo es in der Republik stinkt

Als der Künstler Tony Smith Anfang der Fünfzigerjahre über den noch unfertigen New Jersey Turnpike fuhr, erschien ihm das wie eine Offenbarung: „Die Straße und ein großer Teil der Landschaft war künstlich, und doch konnte man sie nicht als ein Kunstwerk bezeichnen. Andererseits gab sie mir etwas, was mir die Kunst nie gegeben hatte.“

Nun ist das Fahren mehr als fünfzig Jahre nach Smiths Reise in die Nacht als Kunstform längst etabliert. Doch der Blick aus dem Fenster und das gezielte Verlangsamen bis zum Stillstand, das Eintreten in die, wie Smith es beschrieb, „gestaltete Welt ohne Tradition“, fördert auch heute noch, mitten in der deutschen Provinz, etwas zutage, das mühelos den Rang des Kunstwerkes erreicht.

Als legitime Nachfolger Smiths können heute Geruchstester gelten. Diese Vertreter einer seltenen Spezies sind in offizieller, behördlicher Mission unterwegs, um zu riechen, wo es in der Republik stinkt. Doch tatsächlich sind sie die Geheimagenten einer neuzeitlichen Land-Art, die nur einem kleinen Kreis Eingeweihter ähnliche Offenbarungen über das Wesen der Welt und der Kunst in ihr bescheren dürften wie einst Herr Smith. Ihr Eingreifen in die Natur ist jedoch so subtil und flüchtig, dass es von den meisten Menschen nicht einmal bemerkt wird. Wo Robert Smithson mit spiralförmig aufgehäuftem Kies für Aufsehen sorgte oder sich James Turrell in der Wüste ein gigantomanisches Denkmal baut, hinterlassen die Geruchstester keine Spuren. Vielmehr nehmen sie die Spuren der Zivilisation auf, tasten sie sich an der fragilen Grenze zwischen Natur und Kultur entlang.

Der Geruchstester meines Vertrauens, nennen wir ihn Herrn Z., ist ein sanfter Mann, der wenig Worte macht. Zielsicher fährt er uns durch die Nacht. Auf dem Armaturenbrett liegen Fotos von Orten, die nur Herr Z. mit ihren Pendants in der wirklichen Welt in Übereinstimmung bringen kann. Formulare erteilen kryptische Anweisungen: „Während der 10-minütigen Aufenthaltsdauer wird alle 10 Sekunden entsprechend Stoppuhr geprüft, ob ein momentaner Geruchseindruck vorliegt, und auf dem Datenaufnahmebogen anhand der Geruchsqualität protokolliert.“ Wenn irgendwo stünde: „Höhere Wesen befehlen …“, wäre das auch nicht weiter verwunderlich.

Der erste Messpunkt liegt an einer Straßenlaterne, die ihr fahles Licht auf die stille Straße wirft. Herr Z. hält an und ordnet Klemmbrett, Stoppuhr und Taschenlampe. Er stellt sich gerade hin, legt den Kopf in den Nacken und zieht pfeifend Luft durch die Nase ein. Das Ergebnis trägt er auf einer Skala ein. „Es ist wichtig, das gründlich durchzuführen. Man hat ja auch eine Verantwortung“, sagt er. Ich rieche nichts.

Nächste Station: Wir biegen in ein Wohngebiet ein, die Straßen sind nach großen Deutschen benannt: Heuss, Erhard, Bonhoeffer. Die Autos vor den Häusern sind eher klein, aber auch deutsch. Sie heißen Grand-Slam, Bon Jovi, Rolling Stone. Wir nehmen Aufstellung vor Haus Nummer 3. Auf dem millimeterkurzen Rasen ragen bunte Blumen aus symmetrisch angeordneten Eisenkübeln. Links und rechts vom Eingang winden sich zwei Buchsbäume spiralförmig nach oben. Dunkelbraune Butzenscheiben wölben sich nach außen, als wollten sie gleich auf den Rasen tropfen. Langsam wird es hell.

Plötzlich öffnet sich die Tür von Haus Nummer 3. Ein Mann kommt heraus und direkt auf uns zu: „Darf ich mal fragen, was Sie hier machen?“ Der Geruchstester ist darauf vorbereitet und händigt das „Infoblatt für interessierte Passanten“ aus. Es wird später den einzigen Nachweis seiner Intervention bilden. „Es ist beabsichtigt, erstmals systematisch den Wirkungszusammenhang zwischen der Geruchsbelastung und der Geruchsbelästigung durchzuführen“, steht da. Herr Z. schaut den Passanten schweigend, aber freundlich an, blickt kurz auf seine Uhr, zieht wieder pfeifend Luft durch die Nase ein. Der Mann scheint zufrieden und studiert das Blatt im Licht der Taschenlampe. Dann schnüffelt er ein bisschen, zuckt mit den Schultern und geht mit einem Nicken weg: „Na dann.“

Der nächste Messpunkt liegt in der jüngsten Siedlung des Ortes. Sie ist so neu, das die Straße noch nicht befestigt ist. Der Kies staubt bei jedem Schritt. Ein Betonmischer steht herum. Wenn man an die sattroten Ziegelwände der Häuser klopft, klingt es hohl. An einem Schaukelgestell hängt eine zerschlissene Deutschlandflagge. In einem Garten bemerken wir nach einer Weile eine Frau. Sie hockt am Tümpel und reißt rasch und mit großer Anstrengung Algen aus dem Wasser. Sie hebt ruckartig den Kopf: „Morgen“. Es ist noch nicht mal sechs Uhr. Wir riechen nichts.

Der letzte Messpunkt liegt an einem Altenheim. Man hört eine Klospülung, lautes Naseputzen. Langsam kommt die Sonne heraus und wärmt den Rücken. An einer Stichgasse, die zum Ortsausgang führt, schneiden die ersten Lichtstrahlen durch den Nebel. In einer Nische steht hier ein lebensgroßer Jesus am Kreuz. Er ist aus dunklem Holz geschnitzt, die Löcher in seinen offenen Handinnenflächen sind sorgfältig ausgearbeitet. Herr Z. macht sein letztes Kreuzchen auf dem Erhebungsbogen. Er beschreibt kleine Halbkreise beim Gehen, er tänzelt fast: „Das war ein guter Morgen. Nichts zu beanstanden. Lassen Sie uns fahren.“

MAGDALENA KRÖNER