Der Schein des Glücks und das Erwachen der Fantasie

Teddy, der Inkommensurable (8): Lebe so, dass du glauben kannst, ein gutes Tier gewesen zu sein! In den Schriften Adornos tummeln sich Kühe, Tiger, Lurche, Hasen, Säue und Nashörner – in ihnen vermummt sich für ihn die Utopie. Weil es Tiere und Kunst gibt, ist für Adorno nicht alles vergebens

Hätte das Tier Bewusstsein, taugte es nicht zur utopischen AufladungAdorno bleibt Nietzsche treu – auch für ihn ist das Mitleid nicht theoriefähig

von BRITTA SCHOLZE

Die Leser und Leserinnen philosophischer Erbauungslektüre kennen sie: die Hintertreppen, die in Herz und Hirn der Meisterdenker führen sollen. Auch um Adorno blüht die philosophische Anekdote: an die Schilderung abendlicher, wenn nicht gar nächtlicher Brettspiele mit Studentinnen, nach getaner Arbeit in den behaglichen Räumlichkeiten des Frankfurter Instituts, erinnere ich mich. Eindrucksvoll ist auch die Verteidigung Adornos gegen den Vorwurf der Humorlosigkeit, indem man erzählt, dass es Anlass zum Lachen gab, wenn er in privater Runde lange über seine Beobachtung eines vietnamesischen Hängebauchschweins im Zoo berichtete.

Auch aus Briefen erfährt man vieles, was man lieber nie gewusst hätte. Gretel und Theodor W. Adorno unterzeichnen 1939 einen Brief an Adornos Eltern mit „Seid aufs innigste geküßt von Euren nunmehr hörbar wiehernden Pferden Hottilein und Rossilein“; Adorno schreibt 1947 an seine Mutter, das „liebe treue alte Wundernilstutentier“, und küsst sie, „mein Tier“, auf die rosige Nilpferdschnauze als alter Archibald, 1935 schreit er nach Gesprächen mit Horkheimer wie der Hirsch nach Wasser. Alles liebevoll, alles fröhlich – aber will man darüber lächeln? Das überhaupt wissen?

Man muss es wissen, glaube ich. Denn wenn Adorno eine Obsession hatte, dann war es die für das Tier. Vielleicht führt dieser Seitenpfad sogar ins Zentrum seiner Philosophie. Denn die hat sich ja das gefährliche Denken auf die Fahnen geschrieben. Gefährlich ist ein Denken, das gegen die überlieferten Regeln wissenschaftlichen Denkens, Argumentierens und Schreibens verstößt. Adorno meint sogar, dass Wissenschaft den braucht, der ihr nicht gehorcht. Das ist der- oder diejenige, der oder die auf die Rhetorik setzt und diese als Waffe im Kampf gegen ein Philosophieren einsetzt, das sich mit seiner Marginalisierung und Dienstbarkeit gegenüber einer für schlecht gehaltenen Wirklichkeit zufrieden gibt. Adorno hingegen will aus Philosophie wieder das machen, was Kunst (für Philosophen) zu sein versprach und doch kaum je war: ein Skandalon.

Dazu gehört vor allem eine bestimmte Form der Darstellung. Adorno parallelisiert sprachliche und historische Abläufe und nimmt an, dass die Kontinuität von Texten der Kontinuität der verfehlten Aufklärungsgeschichte entspricht. Deshalb muss der Fluss des Denkens und Sprechens unterbrochen und müssen Zäsuren gesetzt werden.

Ein Mittel der philosophischen Störaktion scheint das Herbeirufen des Tiers zu sein. In Adornos Texten wimmelt es von Tieren – unvermittelt durchbrechen sie den Gedankenfluss oder führen ihn auf merkwürdige Weise aus. Die ansonsten gezähmte Wildsau aus Ernsttal, die eine würdige Dame aufs Kreuz nimmt und mit ihr davonrast, ist das bekannteste Tier Adornos – er nennt es sein Leitbild (wenn er denn eins hätte). Es gibt aber auch Kühe, Tiger, Murmeltiere, Hunde, Lurche, Hasen, Walfische, den Froschkönig und, wenn ich mich nicht täusche, sehr viele und sehr wichtige Nashörner. Selbst Überschriften in den „Minima Moralia“ widmen sich Tieren – Lämmergeier, Wolf als Großmutter, Mammut, Prinzessin Eidechse –, und es ist eine nicht unerhebliche Rätselaufgabe, diese Tiere mit den folgenden Sentenzen in Verbindung zu bringen.

Zunächst scheinen die Tiere im philosophischen Text aber Ausdruck einer wirklichen Leidenschaft zu sein. Darüber gibt Adornos Briefwechsel mit Bernhard Grzimek vom April 1965 Auskunft: „Wäre es nicht schön, wenn der Frankfurter Zoo ein Wombat-Pärchen erwerben könnte? Ich kann mich an diese freundlichen und rundlichen Tiere mit viel Identifikation aus meiner Kindheit erinnern und wäre sehr froh, wenn ich sie wiedersehen dürfte. […] Dann darf ich auch an die Existenz des Babirusa, oder, wie er wohl auf deutsch heißt, des Hirschebers erinnern, der ebenfalls zu den Vertrauten meiner Kindheit gehört: ein liebenswürdig bizarrer kleiner Dickhäuter. Er wird doch nicht auf den Malayischen Inseln ausgestorben sein? Und schließlich, wie steht es mit den Zwergnilpferden, die es einmal in Berlin gab?“

Wer den Babirusa eher als den Hirscheber kennt, dem darf man ein ernsthaftes Interesse an Tieren unterstellen. Wer sich als Kind mit Wombats – australischen Beuteltieren – identifiziert, lässt auch später nicht vom Tier als Leitbild ab.

Ist es Adorno zufolge bei den meisten Menschen schon eine Unverschämtheit, wenn sie überhaupt „ich“ sagen, so stellt das Nashorn ein Beispiel gelingenden Selbstseins vor. „Ich bin ein Nashorn“, scheint das stumme Tier zu sagen, „ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns“, wiederholt Adorno an anderer Stelle. Sein und Bedeutung, Dasein und sprachlicher Ausdruck sind hier eins. „Nashorn“ ist die eigentlich unmögliche Selbstpreisgabe eines Konkreten in der Sprache. Der Name „Nashorn“ ist gewissermaßen das Nashorn. Das einzelne, unvertauschbare Exemplar drückt sich und seine Gattung samt ihrer Möglichkeiten oder Ideen auf vollkommene Weise aus. Es ist zudem auf eine Weise mit sich identisch, wie es den mit sich, mit eigener und fremder Natur sowie mit seinen Mitmenschen entzweiten Menschen versagt ist. Ein erkennbarer Zweck ist mit dem Nashorn nicht verbunden. Es ist da, es frisst, es wird gefressen und es vergeht. Das einzelne wie die Gattung. Es hat kein Selbst, kein Bewusstsein und handelt ohne Intention.

Hätte das Tier Bewusstsein, taugte es nicht zur utopischen Aufladung. Adorno konstatiert: Hätte der Löwe Bewusstsein, „so wäre seine Wut auf die Antilope, die er fressen will, Ideologie“. Nichtintentionalität ist ein Schlüsselbegriff für das Leben der Tiere wie für das des Denkens und Sprechens. „Rien faire comme une bête“, heißt es folgerichtig; „sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung“, kommt der erfüllten Utopie eines friedlichen Miteinanders von Mensch und Natur am nächsten.

Adorno: „In die Tiere vermummt sich die Utopie. Das macht sie den Kindern lieb und ihre Betrachtung selig.“ Die Sehnsucht des Tierbeobachters richtet sich auf das Glück unentzweiter Identität und eines intentionslosen Seins: auf ein Leben bar des Subjektzwanges. Dass das Glück des Nashorns reine Projektion ist, ist Adorno jedoch klar. Sein Lob des intentionslosen, bewusstlosen Daseins erfolgt auf der Folie einer Aufklärung, die von (erster) Natur nichts weiß, aber bewusstlos und unerkannt die Geschichte von Fressen und Gefressenwerden fortschreibt. Die ist aber nicht notwendig die der Menschen. Doch Bilder von dem, was sein soll und laut Adorno sein kann, gibt es aber nur als Erinnerung an etwas, was nie gewesen ist. Und in der Form, wie man sich daran erinnert, auch nicht wirklich werden kann: Hauptsache dieser Erinnerung ist deshalb, dass sie etwas anderes „zeigt“, als das, was ist. Es kommt darauf an, dass sich die Einbildungskraft als revolutionäre Tugend am Tier entzündet.

Adornos Tiere stehen nicht für eine naive Flucht in eine vermeintlich harmlose menschenfreundliche Natur. Entscheidend sind der Schein des Glücks und das Erwachen der Fantasie. Aber das Glück ist nicht nur scheinhaft, sondern auch wirklich – und jedes kleine Glück ist für Adorno ja Fragment des ganzen Glücks einer von Herrschaft erlösten und aus Naturgeschichte befreiten Menschheit. So ruft das Tier den Impuls zur Veränderung wach.

Adorno wird als rabenschwarzer Denker verkannt. Dabei ist schon die „Dialektik der Aufklärung“ von positiven Momenten durchzogen, endet etwa jedes ihrer Kapitel mit der Nennung einer möglichen Wendung des ganzen Schlechten zum Besseren. Das Buch ist eine Konstruktion – bewusste Projektion – und ein Experiment: Was passiert, wenn wir mal alles ganz schwarz malen? Was sehen wir dann?

Zum Beispiel eben Kühe, die mit sichtlichem Behagen auf breiten Wanderwegen wandeln, als ob diese für sie angelegt wären, und so das versöhnte Zusammenspiel von Mensch und Tier darstellen; Menschen, die ihre Tierähnlichkeit jäh wiedererkennen und dabei von Glück durchflutet werden. Selbst die im Zoo eingesperrten, in Batterien gepressten Tiere sind dann Negativbilder einer moralisch annehmbaren Welt.

Weil es Kunst und Tiere gibt, mag man sagen, ist nicht alles vergebens. In den nun wirklich düsteren, alle Register der Theologie und Dialektik ziehenden „Meditationen zur Metaphysik“ nennt Adorno einen Grund, warum er kein Nihilist sei: Angesichts des schwachen Schwanzklopfens eines Hundes, dem man einen guten Bissen gegeben habe, verflüchtige sich das Ideal des Nichts. Besser also diese Welt als gar keine. Trotz allem. Wenn es sie nun schon mal gibt.

Nichts so ausdrucksvoll wie die Augen von Menschenaffen, die darüber zu trauern scheinen, dass sie keine Menschen sind, so Adorno in der „Ästhetischen Theorie“; menschlich ist gerade der Ausdruck der Augen, welche denen des Tiers am nächsten sind, so die „Minima Moralia“. Tiere sind nicht die besseren Menschen, aber sie sind auf jeden Fall die besseren Tiere. Animal rationale und Zoon politikon und die anderen Abgrenzungen des Menschen vom Tier sind in der gemeinsamen Welt des Natürlichen keine Ehrentitel. Die Tiere haben zwar keine Vernunft – „noch das stärkste Tier ist unendlich debil“ –, aber „die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen, ja die Elemente des Geistes“ sind in ihnen angelegt. Im Unterschied zu den verhärteten Individuen der bürgerlichen Gesellschaft haben die Tiere eine Seele. Die bestimmt den Blick des Tiers.

In Analogie zum Ausdruck von Kunstwerken scheint der klagende Blick der Tiere um Erlösung zu bitten. Mitleidsfähige Menschen erkennen diese Bitte – berühmt ist die Raserei Nietzsches angesichts eines geschundenen Pferdes. Adorno bleibt Nietzsche treu – auch für ihn ist das Mitleid nicht theoriefähig. Aber es ist die menschliche Regung schlechthin: „Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot (…); nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen.“

All die Thesen Adornos, in denen ein utopischer Naturbegriff und mit dem Ausbruch aus der Dialektik der Aufklärung eine Erlösung oder Verbesserung der gesamten Natur behauptet wird – auf welche die Tiere warteten –, muten in Zeiten der Biopolitik merkwürdig an. Und „so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein“, ist auch keine Empfehlung, der leicht zu folgen wäre. Tiere haben nun mal keine Moral.

Adorno sieht es eher so: „Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke.“ Zwei Hasen machen vor, wie das Überleben in einer feindlichen Umwelt gelingt: scheinbar den Regeln gehorchen – nach dem Schuss „närrisch für tot hinfallen“, dann aber sich sammeln, sich besinnen und von dannen laufen.

Genau so verfahren Adornos Texte. Sie leben vom Verstoß gegen die Regeln tradierten Philosophierens, und sei dieses noch so dialektisch. Rebellisch wenden sie sich gegen eine Tradition, die dem Kult des Tiefen, Wichtigen und Bedeutsamen huldigt. Adornos Tiere unterstreichen den Anspruch eines ungebändigten Denkens: leitmotivisch eingesetzt, sind sie irritierende Einschübe, die einen außergedanklichen Kontext mitklingen lassen. Adorno fordert nicht nur das Eingedenken der Natur im Subjekt, wie eine berühmte Formel lautet, seine Texte verwirklichen sie schon in der eigenen Form. Pathos und Ethos sind hier Ausdruck der Freiheit des Denkens.