: Die Unordnung der Dinge
Da kann auch Foucault nicht weiterhelfen: Hat man sich nach Monaten endlich entschlossen, etwas wegzuschmeißen, guckt einen die Sache traurig an und bleibt liegen. Versuch einer Chaostheorie
von DETLEF KUHLBRODT
Scheinbar achtlos verstreut liegen die Dinge in der Wohnung auf dem Boden, auf den Tischen, vor der Anlage herum, und es erscheint einem absurd, die Dinge in Schubladen zu kategorisieren. Die unterschiedlichen Methoden, sie zu ordnen, nach Farbe, Größe, Alter oder den Prinzipien des Fengshui, scheinen gleichwertig zu sein. Während man im Chaos versinkt, möchte man kein Ding bevorzugen, selbst Michel Foucaults Buch „Die Ordnung der Dinge“ hilft auch wenig.
Mit welchem Recht, sollte ich dies in jene und das andere in diese oder doch lieber die andere Schublade stecken? So bleibt alles liegen, und es wird einem schwindlig. Manchmal träumt man auch von Zeitungen, Büchern und CDs, die sich nach Gebrauch einfach in Luft auflösen, und wenn man sich nach Monaten endlich entschlossen hat, irgendetwas wegzuschmeißen, guckt einen die Sache traurig an – es schwankt der Entschluss, und die Sache bleibt liegen.
Der erste Teil des Lebens scheint darin zu bestehen, Sachen anzusammeln, der zweite Teil des Lebens besteht darin, das Angesammelte wieder wegzuschmeißen. Manchmal fühlt man sich wie ein Rädelsführer in der Versammlung der Dinge.
Das Nicht-wegschmeißen-Können ist vermutlich ein Erbe der Kriegsgeneration, das viele derer pflegen, die nach 68 im linksradikalen Lager gegen Eltern und Staat rebellierten. Die einen mussten immer alles einwecken, weil es Sünde war, auch nur einen Apfel wegzuschmeißen, die anderen versanken unter Bergen alter Zeitungsartikel und Bücher, die sie nie mehr anschauen werden.
Freund B. zum Beispiel, Ende vierzig, hat ein ganzes Zimmer mit tausend Sachen. Er kann sie einfach nicht wegschmeißen. Mehrere TV-Antennen, Schallplatten, Zeitungsausschnitte, Bücher, Säcke voller Kleidung, revolutionäre Plakate oder auch Bettzeug.
„Warum bringst du das Bettzeug denn nicht wenigstens in den Altkleidercontainer?“ – „Aber gerade das Bettzeug könnte ich vielleicht noch brauchen. Daraus könnte man prima Demonstrationstransparente machen.“ – „Ich dachte, du findest alle Demos faschistisch?“ – „Sind sie ja auch.“ – Wann warst du zuletzt auf einer Demo?“ – „Vor fünfzehn Jahren.“ – „Und du meinst, du wirst in den nächsten fünfzehn Jahren wieder auf eine gehen?“ – „Vielleicht. Man kann ja nie wissen.“
Wenn man sein eigenes Nichtich wäre und auch noch Zeit hätte und vom Aufräumen bis zum Aufräumen mit einer feststehenden Kamera die Versammlung der Dinge im Zimmer einen Monat lang beobachten und das alles dann in einer Stunde abspielen würde, könnte man entdecken, dass die Unordnung im Prozess ihrer Entwicklung ihre eigenen (ökologischen) Gesetze formuliert.
Da und dort entstehen kleine Häufchen, wachsen weiter und fransen an ihren Rändern aus, wie Kassetten und die dazugehörigen Hüllen. Scheinbar nicht zueinander passende Dinge gesellen sich zueinander und gehen wieder auseinander. Unterm Sofa ist es gemütlich, und alles erscheint in seiner Entwicklung, also quasi historisch betrachtet, logisch und schön.
Unordentlich lässt man den Dingen ihren Willen, und die Dinge stellen sich dahin, wo es ihnen am besten gefällt. Manche legen sich in die Sonne, andere finden den Schatten besser; manche verstecken sich unter dem Tisch, andere liegen lieber auf dem Teppich.
Manche Dinge sind außenseiterisch; andere können sich ein Dasein jenseits der Gruppe nicht vorstellen, und manche Dinge hatten nie einen Platz, an den sie eigentlich gehören, und ziehen ruhelos durch die Gegend, misstrauisch beäugt von den Büchern, die selten nur das Regal verlassen, und wenn sie umziehen, dann immer nur mit Regal.
Vermutlich könnte man die Unordnung der Dinge in einem Computerprogramm simulieren. Vielleicht würde das aber auch daran scheitern, dass es so viele Dinge hier gibt. Man wundert sich ja immer wieder, wie viele Dinge es gibt.
„Im Weltall gibt es mehr Sterne als Sandkörner an den Stränden und Wüsten der Erde“, hat die Internationalen Astronomische Union, die neulich in Sydney tagte, herausgefunden. „Allein die erfassbare Sternenzahl betrage 70.000 Millionen Millionen Millionen. Diese Zahl umfasst jedoch nur die Sterne, die derzeit mit Teleskopen zu erspähen sind. Die wirkliche Zahl könnte sehr viel größer sein.“
Auf dem Schreibtisch dagegen liegen exakt 105 verschiedene Dinge, wenn man die Staubkörner nicht als selbstständige Entitäten betrachtet. Wie zählt man die Dinge, wo hört ein Ding auf und beginnt ein anderes, und was machen die Dinge, wenn sie schlafen?
Man könnte die Dinge auch in der zeitlichen Abfolge ihres Auftretens betrachten und darüber einen Film machen oder ein einziges Ding ein Jahr lang beobachten. Eine leere Streichholzschachtel zum Beispiel, die ja zuweilen Monate in Zwischenzuständen einer gewissen entleerten Sinnlosigkeit verharrt. Glücklich nur werden die Menschen sein, die ohne Dinge auskommen.
Auch müllt man sich ja ständig digital zu und scheut elektronische Papierkörbe, neun von zehn SMS-Speicherplätzen sind belegt von Nachrichten, die mindestens ein Jahr alt sind: Schöne SMSe, die draufbleiben, weil sie Charakter und Aura verlören, wenn man sie abschreiben würde.
Auf dem Anrufbeantworter sind auch immer mehrere The-best-of-früher-Nachrichten. Dieser und jene oder „ich wollte mit dir sprechen und nun bist du doch nicht da“. Die Lieblingsnachricht kommt von der ehemaligen revolutionären Kämpferin B. Vor einem Jahr hatte sie meinen Anrufbeantworter gebeten, ihr eine Stange von „diesen Gesundheitszigaretten, American Spirit oder wie die heißen“, nach London mitzubringen. Genauer: „American Spirit, diese wunderbare – was weiß ich – Zigarettenmarke, diese ‚Health-Zigaretten‘-Marke; und davon die gelben.“
Die wegwerfende Geste, mit der sie den Namen des Produkts ausgesprochen hatte, war beeindruckend. Die guten 68er sprechen alle mit so einer wegwerfenden, gegen die Wegwerfgesellschaft gerichteten Geste, der vermutlich ein faktisches Nichtwegwerfen-Können entspricht.