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Archiv-Artikel

Das Woody-Allen-Syndrom

Bill Emmott ist Chef der Zeitschrift „Economist“. Seine Mission: die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu verteidigen – zum Beispiel gegen Silvio Berlusconi. Denn dessen Machtmissbrauch diskreditiere die liberale Wettbewerbsgesellschaft. Soziale Ungleichheit ist für Emmott kein Problem

Für Emmott sind die USA der „Garant für Sicherheit, Vertrauen und Stabilität“

Der Chefredakteur des Economist, Bill Emmott, hat dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi den Kampf angesagt. In einem umfangreichen Dossier dokumentiert Emmott die demokratiefeindlichen Praktiken des italienischen Medienmoguls. Seine Schlussfolgerungen sind eindeutig: Berlusconi ist eine Bedrohung für die liberalen Demokratien in ganz Europa. Er gefährdet die moralischen Grundsätze des Liberalismus. Sein Vergehen: Machtmissbrauch.

Diese Meinung ist allerdings keineswegs das Privileg eines Liberalen wie Bill Emmott. Man darf auch als Konservativer oder Sozialist Lumpen im Maßanzug verabscheuen. Dafür genügt als Motivation so etwas Altmodisches wie Anstand. Doch dem Chef des Economist geht es um weit mehr, denn seine Zeitschrift ist der Gralshüter einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Der Fall Berlusconi erschüttert ein Gesellschaftsmodell, das Emmott in seinem Buch „Vision 20/21. The Lessons of the 20th Century for the 21st“ entwirft. Die misslungene Übersetzung des Titels („Vision 20/21. Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts“) wirft dabei ein Schlaglicht auf die hiesige Diskussion.

Hierzulande verwechselt man gern Vision mit Utopie. Es vergeht kaum ein Sonntag, an dem nicht das Fehlen von Visionen beklagt wird. Sie beinhalten zumeist Frieden und Gerechtigkeit. Diese Visionen sind weit weg – im Himmel. Dort stören sie auch nicht, wenn man montags bis samstags mit der Verteidigung von Privilegien beschäftigt ist. Man ist Visionär oder Realist – aber immer moralisch. Der Visionär leugnet die Realität. Er bestreitet etwa die Feststellung, dass man in Zukunft den sozialen Status eines Menschen am Gebiss erkennen wird. Aber ihm geht es auch nicht um die Folgen der eigenen Politik, sondern um seine moralischen Empfindungen. Der Anblick von Menschen mit Zahnlücken stört dabei nur.

Man kann diese Realität aber auch als Begründung für die eigene Brutalität nehmen. Der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, gehört in diese Kategorie. Brutal ist dabei nicht die Forderung an sich, sondern Mißfelders moralischer Anspruch auf Generationengerechtigkeit. Er will beim Anblick des Rentners auf den selbst bezahlten Krücken auch noch das gute Gefühl moralischer Rechtschaffenheit haben.

Mit diesen Elendsgestalten deutscher Debattenkultur ist Bill Emmott nicht zu verwechseln. Vision und Realität fallen bei ihm nicht in gleicher Weise auseinander. In der zukünftigen Weltordnung sieht er zwei zentrale Probleme: die Bedrohung des Friedens und die Zukunft des gescholtenen Kapitalismus. Wenig überraschend ist dabei sein Plädoyer für die Rolle der USA als „großer Bruder“, der als „Garant für Sicherheit, Vertrauen und Stabilität“ wirken soll. Seine Anerkennung der amerikanischen Hegemonie ist dabei keineswegs bedingungslos. Er nennt zwei Voraussetzungen:

1.) die Kooperationsbereitschaft der USA gegenüber den anderen weltpolitischen Akteuren. Nun bestreitet wohl niemand die überragende weltpolitische Bedeutung der USA, aber definiert die Bush-Regierung Sicherheit, Vertrauen und Stabilität wirklich aus der übergeordneten Perspektive der einzigen Weltmacht, wie es sich Emmott wünscht? Schließlich kann sich auch ein großer Bruder als Tyrann entpuppen, wenn er auf die kleinen Geschwister keine Rücksicht mehr nimmt. Eine solche Entwicklung kann und will Bill Emmott nicht ausschließen. Dazu hat er auch keine Alternative, da er eine europäische Außenpolitik für nicht realisierbar hält.

2.) die Akzeptanz des Leistungsprinzips. Eine kapitalistische Wirtschaftsordnung hat einen Grundwiderspruch: Die Hauptantriebskraft seiner konkurrenzlosen Leistungsfähigkeit ist der Wettbewerb und das Ergebnis soziale Ungleichheit. Wer wirtschaftliche Ungleichheit akzeptiere, so Emmott, werde mit hohen Wachstumsraten belohnt. Sein Credo ist unverrückbar das liberale Modell: Der lohnabhängige Durchschnittsbürger müsse wenigstens die theoretische Möglichkeit zum sozialen Aufstieg besitzen.

Der Machtmissbrauch eines Silvio Berlusconi (oder anderer korrupter Manager) gefährde die Akzeptanz der liberalen Wettbewerbsgesellschaft. Aber so ehrenwert sein Kampf gegen Machtmissbrauch auch ist, so wenig kann die liberale Vision überzeugen.

Emmott sieht neben dem Machtmissbrauch zwei weitere Gefahren für den Kapitalismus. Die erste ist moralischer Natur. Der Mensch sei aus anthropologischen Gründen auf Konkurrenz, Risiko und Wettbewerb angewiesen, aber zugleich mit „moralischen Regungen“ (Adam Smith) ausgestattet. Darunter versteht Emmott Gefühle, Sinn für Gerechtigkeit und Sympathie. Über solche Regungen setze sich der Kapitalismus leider oft hinweg, sodass sogar die so genannten Gewinner des Systems eine Kluft zwischen ihren egoistischen und ihren moralischen Impulsen verspürten.

In solchen Momenten geht Woody Allen zum Psychiater. Bill Emmott dagegen wird zum Historiker. Für ihn ist die Lektion des 20. Jahrhunderts der aussichtslose Kampf der moralischen Regungen gegen die segensreichen Wirkungen der liberalen Wettbewerbsgesellschaft. Eine These, die als das Woody-Allen-Syndrom liberaler Gesellschaftstheoretiker in die Geschichte eingehen wird.

Der Kapitalismus ist zwar auch für Emmott ein krisenanfälliges Wirtschaftssystem und man findet intelligente Anmerkungen etwa zu den Ursachen der großen Depression im letzten Jahrhundert. Aber eine Erkenntnis würde er auf gar keinen Fall akzeptieren: dass der Kapitalismus seine eigenen Ansprüche verfehlen könnte, also Aufstiegschancen für jedermann und Wohlstand für alle zu bieten. Da flüchtet man sich doch lieber in einen fiktiven Konflikt zwischen egoistischen und moralischen Impulsen. Sonst käme man noch zu der Einsicht, dass Marktwirtschaft und Ungleichheit zwar Zwillinge sind, aber zunehmende Ungleichheit keineswegs zunehmenden Wohlstand bedeutet.

Die zweite Gefahr betrifft die Rolle des Staates. Emmott will den Staat auf ein funktionierendes Rechtssystem zum Schutz vor Machtmissbrauch und zur Sicherung einer funktionierenden Wettbewerbsordnung beschränken. Der die Ungleichheit beschränkende Wohlfahrtsstaat findet dagegen keine Gnade. Dieser sei „korpulent“, belaste die Besserverdienenden mit „unverhältnismäßig“ hohen Steuern und gefährde die Wohlstandsproduktion. Ansonsten hat Emmott zu dem Thema leider wenig Systematisches beizutragen. Friedrich August Hayeks liberales Meisterwerk „Wege aus der Knechtschaft“ aus dem Jahr 1942 ist in der Hinsicht immer noch konkurrenzlos. Die beiden letzten Sätze in Emmotts Buch lauten: „Das Aufdecken von Schwindeleien zählt zu den Hauptanliegen des Journalismus, dem Inbegriff der Skepsis. Diesen Weg der Enthüllungen müssen wir weitergehen.“ Auf diesem Weg sollte man ihn unterstützen. Wenn er allerdings glaubt, so den Kapitalismus zu retten, befindet er sich auf dem Holzweg.

FRANK LÜBBERDING

Bill Emmott: „Vision 20/21. Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts“, aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 368 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, 24,90 €