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Archiv-Artikel

Lissabon ist nicht verloren

Beim Streit um den EU-Reformvertrag punkten die EU-Befürworter. Die Entscheidung der Richter ist offen

KARLSRUHE taz ■ Am zweiten Tag hat sich die Stimmung am Bundesverfassungsgericht gewendet. Bei der Verhandlung über den EU-Reformvertrag kamen gestern die EU-freundlichen Positionen mehr zum Tragen – auch unter den Richtern.

Am deutlichsten war dies bei Udo Di Fabio spürbar, dem konservativen Richter, der das Verfahren für den achtköpfigen Zweiten Senat vorbereitet hat. Während er die EU-Integration am Dienstag noch als „freiheitsgefährdend“ bezeichnete, betonte er gestern, dass die EU auch „Freiheitsgewinne“ ermögliche. Die deutsche Politik sei nicht mehr auf den Nationalstaat begrenzt, sondern könne auch in Frankreich und Großbritannien mitgestalten.

Zu Beginn des zweiten Tages hatte Regierungsvertreter Christian Tomuschat darauf hingewiesen, dass der EU-Einfluss auf deutsche Politik überschätzt werden. Von 82 deutschen „Schlüsselentscheidungen“ seien zwischen 1975 und 2006 nur zwölf von der EU vorbestimmt gewesen. Angaben, nach denen 70 Prozent aller deutschen Gesetze nur noch EU-Recht umsetzten, seien falsch, so Tomuschat.

Sein Gegenüber Dietrich Murswiek (er vertritt den klagenden CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler) meinte, auf solche Statistiken komme es nicht an. Entscheidend sei nicht, wo die EU von ihren Befugnissen tatsächlich Gebrauch mache, sondern wo sie die Möglichkeit dazu habe – und das sei inzwischen fast flächendeckend möglich.

Murswiek machte dann ein Angebot. Wenn die Bevölkerung wirklich eine starke EU mit weiter Zuständigkeit und Mehrheitsabstimmungen im Ministerrat wolle, müsse zumindest das Europäische Parlament „repräsentativ“ gewählt werden. Heute dagegen sei die Europawahl „gleichheitswidrig“, weil die Bürger der kleinen EU-Staaten mehr Abgeordnete wählen können, als ihnen proportional zustehen.

Doch mit seinem Angebot hat der Rechtsprofessor eher ein Eigentor geschossen. „Bei diesem Modell hätten die Bürger Maltas, Zyperns und Luxemburg jeweils genau einen Abgeordneten im Europäischen Parlament“, rechnete Regierungsvertreter Ingolf Pernice vor, „sie hätten also faktisch gar keinen Einfluss.“ Hier hakte auch die Verfassungsrichterin Lerke Osterloh ein: „Es kann ja nicht sein, dass das Grundgesetz angeblich etwas fordert, was politisch überhaupt nicht realisierbar ist.“

Als Alternative schlug Murswiek vor, im Ministerrat könne stets einstimmig abgestimmt werden, fand aber auch hierfür Kritik auf der Richterbank. „Sie verteidigen immer nur Veto-Positionen“, kritisierte Richterin Gertrude Lübbe-Wolff, „Mehrheitsabstimmungen haben aber auch Vorteile, weil sonst ein einzelner Staat alle anderen am Handeln hindern kann.“

Der Lissabonner Vertrag will die EU effizienter machen. Es soll mehr Mehrheitsabstimmungen geben und das Europäische Parlament aufwerten. Die Kritik der Linken an dem angeblich „neoliberalen und militaristischen“ Vertrag wurde erst nach Redaktionsschluss verhandelt.

Das Urteil wird im Sommer erwartet. CHRISTIAN RATH