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Archiv-Artikel

Den Opfern Namen und Gesicht geben

Die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ kommt in einer neuen Zählung auf 1.008 Tote des DDR-Grenzregimes

Tote zu zählen ist eine unangenehme Arbeit. Manchmal ist sie nötig. Das Mauermuseum „Haus am Checkpoint Charlie“ an der Kreuzberger Friedrichstraße erledigt sie seit seiner Gründung mit Akribie: Zusammen mit der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ haben sie am Vortag des 42. Jahrestags von Mauerbau und Schießbefehl ihre neuesten Zahlen zu den „Todesopfern des DDR-Grenzregimes“ veröffentlicht. Sie kommen für die Zeit von 1946 bis zum 9. November 1989 auf genau 1.008 Personen.

Wohlgemerkt: Die Zahl umfasst alle Menschen, die wegen des Grenzregimes der DDR ihr Leben verloren. Dazu gehören nach Ansicht der „Arbeitsgemeinschaft“ unter anderem auch die, die illegal von der DDR in den sozialistischen Bruderstaat Polen kommen wollten und dabei erschossen wurden oder beim Durchschwimmen der Oder ertranken. An der „Westgrenze Polen“ zählen die Forscher 24 Tote. Hinzu kommen Tote, die der „Arbeitsgemeinschaft“ zufolge „nach erfolgreicher Flucht im Westen liquidiert“ wurden (so 1980 Bernd Moldenhauer) oder in den Osten zurückgebracht und dort umgebracht wurden (13 Personen). Alexandra Hildebrandt, Vorstandsmitglied der „Arbeitsgemeinschaft“, zählt zu den Opfern auch ältere Menschen, die beim Grenzübertritt an den Berliner Checkpoints wegen Brutalitäten von Grenzsoldaten einen Herzschlag bekamen und starben.

Sind solche Personen dann Opfer des Grenzregimes? Die Tatsache, dass die „Arbeitsgemeinschaft“ mit einem relativ weiten Opferbegriff umgeht und beispielsweise auch Suizide nach gescheiterten Fluchtversuchen mitzählt, ist umstritten. Offen oder hinter vorgehaltener Hand kritisieren manche Forscher deshalb die Opferzahl der „Arbeitsgemeinschaft“ als zu hoch – als könnte eine möglichst hohe Zahl von Getöteten im Nachhinein noch einmal den Unrechtscharakter des SED-Staates betonen.

Immerhin bleibt es das Verdienst der „Arbeitsgemeinschaft“, den Opfern, wo möglich, Namen und Gesicht zu geben. Nachlesen zu können, wie der Jugendliche hieß, der an der Mauer starb, ist weit eindrucksvoller als das Lesen einer absoluten Zahl – wie hoch sie auch immer sei.

Übrigens: Chris Gueffroy, häufig als letzter Mauertoter genannt, war nicht das letzte Opfer des DDR-Grenzregimes. Nach ihm starben noch Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 beim Fluchtversuch von einem Balkon stürzte. Ein unbekannter 18-Jähriger ertrank im Teltowkanal am 16. April 1989. Und das wirklich letzte Opfer war laut Recherche der „Arbeitsgemeinschaft“ Dietmar Pommer. Er starb 30. Oktober 1989 – keine zwei Wochen vor dem Fall der Mauer. PHILIPP GESSLER