: Eine Ehe mit Hindernissen
Streifzüge durch Europa (III): Weißrussland grenzt 2004, wenn Polen aufgenommen wird, an die EU. Doch das übermächtige Lenin-Denkmal auf dem Hauptplatz von Brest weist noch immer nach Osten
Festung, Wagenburg oder Groß-WG? Die Europäische Union wird 2004 um zehn Beitrittsländer erweitert. Wie aber kommen das „alte“ und das „neue“ Europa in der Praxis miteinander klar? Und wie können sich die Beteiligten jenseits der großen Zusammenschlusspläne ihre kulturellen Eigenheiten erhalten?
von UWE RADA
Es sind nur wenige Reisende, die den D-Zug Berlin–Moskau bereits in Brest verlassen. Diejenigen, die in der Grenzstadt zu Polen aussteigen, haben nicht nur die künftige Außengrenze der Europäischen Union überschritten, sie befinden sich auch in einer anderen Welt.
Das 300.000 Einwohner zählende Brest ist keine Grenzstadt im klassischen Sinne. Keine polnischen Schnäppchenjäger findet man hier, keine Grenzbasare. Der Übergang ist hier nicht fließend wie zwischen Polen und der Ukraine, sondern abrupt. Wer in Brest aus dem Zug steigt, sieht ein anderes Europa als das, das er soeben verlassen hat. Schon am Bahnhof sammeln Kolonnen von Straßenreinigern die Zigarettenkippen, wenn es sein muss, mit der Hand auf. Auf dem Hauptplatz der Stadt weist ein übermächtiger Lenin noch immer den Weg in die richtige Richtung. Und die heißt in Weißrussland nicht Europa.
Jedes Land hat seinen Osten. Deutschland hat die ehemalige DDR, in Ostdeutschland dagegen liegt der Osten schon in Polen. In Polen wiederum ist alles Osten, was östlich der Weichsel liegt, also arm und rückständig ist und in den Zeiten der Teilung russisch war. Und auch in Weißrussland gibt es einen Westen – die Regionen, die einmal polnisch waren – sowie den (schon immer russischen) Osten.
Dem allgegenwärtigen Osten entspricht der Blick in die entgegengesetzte Richtung, nach Westen. Aus den abgelegenen Regionen der Russischen Förderation drängt es die Menschen nach Moskau, der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. In Ostpolen schaut man aufs Grenzgebiet zu Deutschland, weil es sich auf der anderen Seite leichter schwarzarbeiten lässt. Der real existierende Osten hat in der Sehnsucht nach dem Westen eine Konkurrenz bekommen, die prägend ist für die jüngere Geografie des Kontinents.
Trifft das auch auf Weißrussland zu? Für dieses Land, dessen Straßen manchmal so breit sind wie Flugzeuglandebahnen, die man in die endlosen Wälder gehauen hat? Schauen die Menschen zwischen Brest und Gomel, Grodno und Mogilew, Minsk und Witebsk dem wegweisenden Arm Lenins hinterher, oder sehnen auch sie sich nach Europa? Oder blicken sie nur noch den Lkws hinterher, die ihr Land durchkreuzen, in der Hoffnung, dass etwas vom großen Ost-West-Verkehr, der seit dem Fall des Eisernen Vorhangs durch Europa rollt, auch im Land seines letzten Diktators hängen bleibt?
Vielleicht in der Hauptstadt. In Minsk gibt es auch andere Zeichen als Lenin und leer gefegte Straßen. Am Rande der mehrspurigen Autostraßen, die die 1,7-Millionen-Stadt wie Arterien durchziehen, verdecken großflächige Reklametafeln die Holzhäuser dahinter. An der Hauptkreuzung der Stadt, wo der Leninboulevard auf den Skarynaprospekt trifft, drängeln sich die Jugendlichen vor McDonald’s. In den Straßencafés sitzen junge Paare und unterhalten sich bei russischem Baltyka-Bier.
Doch es ist nicht der Westen, den die Jugendlichen an der Kreuzung Leninboulevard und Skarynaprospekt zitieren, kein European style, der mit der wuchtigen Ästhetik der Stalinbauten in einen Wettstreit tritt, nicht die lässige Lebenslust, wie sie in ukrainischen Städten wie Lemberg oder Kiew über den Plätzen liegt. Nicht die Generation X des Westens ahmt man vor dem McDonald’s in Minsk nach, sondern die Generation P des Moskauer Popliteraten Viktor Pelewin.
Europa? Wenn es um die Zukunft seines Landes geht, zuckt Anatoli Michailow mit den Schultern. Weißrussland stand schon immer am Kreuzweg, sagt der Direktor der privaten Europäischen Humanistischen Universität in Minsk, der in Jena studiert und über Heideggers Hermeneutik promoviert hat. „Wir haben nirgendwo richtig dazugehört, aber auch nie unsere eigene Kultur und Sprache entwickeln können.“ Das, so Michailow, habe dazu geführt, dass die Weißrussen immer kämpfen mussten. „Dieser Konfrontationsgeist ist stärker als alle Versuche einer Selbstidentifizierung. Wenn überhaupt, ist unsere Identität eine Identität der Abgrenzung.“
Kusma Kozak sagt „wir“, „wir Weißrussen“. Er sagt es in einer Art, die selten ist in einem Land, in dem die Gegenwart und womöglich auch die nahe Zukunft einem Präsidenten gehört, dessen „Wir“ eher ein „Ich“ ist. Kozaks „Wir“ ist das „Wir“ der Geschichte. Kein Land ist in Europa im 20. Jahrhundert so verwüstet worden wie Weißrussland. Jeder vierte Weißrusse hat den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzung nicht überlebt. Doch Kozak, der Leiter der Geschichtswerkstatt in Minsk, will auch die anderen Seiten der weißrussischen Geschichte aufarbeiten, die der Kollaboration und der Säuberungen der Stalinzeit. „Bei uns ist immer nur von Krieg und Kampf die Rede gewesen. Wir wollen zeigen, dass es auch noch andere Seiten in der Geschichte unseres Landes gab.“ Kozaks Versuch, die Geschichte seines Landes und seiner Stadt von unten her aufzuarbeiten, ist auch ein Suchprozess nach einer Identität, die mehr ist als Abgrenzung.
Doch dieses „Wir“ hat es in Weißrussland, anders als in der Ukraine, noch zu keiner Stimme gebracht. Auch nicht an der Europäischen Humanistischen Universität, an der die Studenten nicht Ingenieurwissenschaften oder Verwaltungslehre studieren, sondern Theologie, Kunstgeschichte und Philosophie. „Es gibt kaum eine intellektuelle Szene in Weißrussland“, sagt Anatoli Michailow. „Die meisten Studenten wollen nicht bleiben, sondern ins Ausland.“ Nichts wie weg hier – so wird sogar die eigene Biografie zum Transit.
Die Hoffnungslosigkeit der Studenten an der EHU ist auch ein Ausdruck des Niedergangs der weißrussischen Wirtschaft. Einst eine der reichsten Republiken in der Sowjetunion, ist Weißrussland heute wirtschaftlich am Boden. Und kein Zeichen der Besserung ist in Sicht, kein ausländisches Kapital, das Arbeit schaffen und den Privatsektor stärken könnte. Es gibt einfach keinen Investitionsbedarf in einem Land, in dem die Durchschnittslöhne zwar nur 100 Dollar im Monat betragen, der Präsident aber höchstpersönlich die Firmen zwingen kann, im Sommer so viel Tonnen Kartoffeln zu ernten, wie sie Mitarbeiter beschäftigen.
Auch Piotr Sadouski glaubt nicht mehr an eine Brückenfunktion, die sein Land einmal einnehmen könnte zwischen dem Europa der Europäischen Union im Westen und der Russischen Förderation im Osten. „Europa schaut über Weißrussland hinweg nach Russland“, sagt der erste Botschafter Weißrusslands in Deutschland nach der Unabhängigkeit des Landes 1992. „Europa glaubt sogar, dass eine Demokratisierung Weißrusslands nur durch den Einfluss Moskaus gelingen kann.“ Wo aber, fragt Sadouski, war Moskau bei all den Verfassungsbrüchen Lukaschenkos oder den Verhaftungen der letzten Jahre? „Russland hielt das alles für eine innere Angelegenheit seines Verbündeten und bot dem Regime auf internationaler Ebene immer Unterstützung an.“ Wie solle man auch Hilfe bei der Demokratisierung von Wladimir Putin erwarten, der seine „Machtvertikale“ nicht weniger erfolgreich aufbaue als Lukaschenko?
Wenn Europa tatsächlich einmal nach Minsk schaut, dann meistens ohne Konzept. So fror die EU ihre Beziehungen zu Weißrussland ein, erteilte Lukaschenko ein Einreiseverbot, nur um im vergangenen Jahr den Großteil der Sanktionen wieder aufzuheben. Von den Forderungen der EU – von einer Stärkung des Parlaments bis zum freien Zugang der Opposition zu den Massenmedien – hatte sich keine erfüllt. Auch die neue OSZE-Mission setzt, anders als die vorangegangene, auf Dialog statt auf Konfrontation. Eine Strategie verbirgt sich dahinter noch nicht.
Wie sollte sie auch? Schließlich gibt es noch nicht einmal einen Ansatz dessen, was man eine „europäische Ostpolitik“ nennen könnte. Wenn überhaupt, betrachtet man die neue Außengrenze der Europäischen Union nur als „Sicherheitsproblem“, das einen Cordon Sanitaire erforderlich mache. Das einzige Land, das eine eigene Ostpolitik betreibt, Polen, steht damit allein da. Dabei weiß man in Warschau ganz genau, was passiert, wenn am Bug oder am San demnächst wieder ein neuer Eiserner Vorhang entstehen würde. Nicht nur Weißrussland und die Ukraine leben schließlich vom grenzüberschreitenden Handel in dieser Region, sondern auch die östlichen und südöstliche Regionen Polens. Entsprechend groß sind die Sorgen über die weiteren Entwicklungen in der Ukraine und Weißrussland. Von einer mögliche Annäherung an Russland fürchtet man sich da, aber auch vor einer „Tschetschenisierung“.
Auch in Brest schauen viele mit Sorge in die Zukunft. Wer nach Polen will, braucht seit Juli ein Visum. „Von den 300.000 Einwohnern der Stadt“, sagt der Chefredakteur der unabhängigen Zeitung Wetscherni Brest, „waren 36.000 bereits mehr als fünfmal in Polen. Dort haben sie gesehen, welch positive Auswirkung der Beitrittsprozess hatte.“
Europa, das hier ganz nahe ist, ist mit dem Visumszwang wieder weiter weggerückt.