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Archiv-Artikel

„Wir setzen die Themen“

Die politische Radiosendung „Today“ der BBC hat die „Kelly-Affäre“ losgetreten und Tony Blair in Bedrängnis gebracht

Als „Today“ gestern Morgen um 6.35 Uhr britischer Zeit über die bevorstehende Aussage ihres Mitarbeiters Andrew Gilligan vor Lordrichter Hutton berichtete, war das fast auf die Minute der Zeitpunkt, an dem die BBC-Radiosendung am 29. Mai 2003 die „Kelly“-Affäre auslöste.

Fast zehn Minuten interviewte damals „Today“-Moderator John Humphrys unter anderem den Verteidigungsspezialisten des Senders, der hier zum ersten Mal „Geheimdienstquellen“ zitierte, die „unglücklich“ darüber waren, wie die Regierung von Premierminister Tony Blair angeblich ein Dossier über die Einsatzbereitschaft irakischer Massenvernichtungswaffen „aufgepeppt“ habe, um die Notwendigkeit des Irakkriegs zu begründen. Die folgenden Auseinandersetzungen, der erbitterte Kleinkrieg zwischen BBC und Regierung, die Enttarnung des Waffenspezialisten David Kelly und dessen Selbstmord haben sich zur größten Krise für den bisher erfolgsverwöhnten Blair und seine New-Labour-Administration ausgeweitet.

Dass ein politisches Magazin – noch dazu im Radio – eine derartige Wirkung entfaltet, ist zwar auch für „Today“-Standards ungewöhnlich. Als klarer Agenda-Setter, der das politische Tagesgeschäft des Landes bestimmt, funktioniert die Sendung aber seit mittlerweile über 45 Jahren. Schlanke 15 Minuten mussten am 28. Oktober 1957 für das erste „Today“ ausreichen, der Sendeauftrag schon damals „intelligente, markige Kommentierung“ („Today“-Erfinder Sir Robin Day) des aktuellen politischen Geschehens. Markig ist das Herangehen der ModeratorInnen bis heute geblieben, nur dass die Sendung inklusive halbstündlicher Nachrichtenüberblicke aktuell volle drei Stunden füllt. Kabinettsmitglieder als Gesprächspartner sind eher Regel als Ausnahme, von Verlautbarungsjournalismus fehlt dem Programm aber jede Spur.

Anders als in den in Seriosität erstarrten Angeboten von Deutschlandfunk und Deutschlandradio hierzulande macht man auf umgänglich und locker, PolitikerInnen und manchmal auch ModeratorInnen sprechen sich mit Vornamen an – nur der Premierminister ist tabu. Doch wenn es knirscht, wird aus „John“ auch sehr schnell wieder „Mr. Humphrys“.

Und knirschen tut es oft. Die lautstark bejammerte „Voreingenommenheit“ der BBC, von den konservativen Regierungen unter Margaret Thatcher und John Major wie auch von der Blair-Adiministration immer wieder gerne bemüht, hat meistens in „Today“ ihren Ausgangspunkt.

Doch an der Sendung kommt niemand vorbei. In Sternstunden melden sich sogar höchste Kreise ganz ungefragt, um spontan auf das laufende Programm zu reagieren: Margaret Thatcher rief persönlich an, auch Blairs Vize John Prescott ließ von sich hören. Wie „Today“ tickt, wenn Redaktion und ModeratorInnen in Hochform sind, hat Thatchers ehemaliger Schatzkanzler Kenneth Clarke unnachahmlich auf den Punkt gebracht: „Warum sollen wir immer darüber reden, was passieren wird – und dürfen nicht über die all die guten und hehren Dinge sprechen, die wir gestern vollbracht haben?“, fragte der im Jubiläumsprogramm 1997. „Weil wir die Themen setzen“, antwortete John Humphrys: „Das ist Sinn und Zweck von ‚Today‘.“ STEFFEN GRIMBERG

BBC Radio Four und „Today“ sind vor allem in Westdeutschland recht passabel auf Langwelle zu empfangen.