Eine schwierige politische Liebe

Europa ist noch weit entfernt davon, einig zu sein. Das wird so bleiben, wenn Politiker wie Bürger die emotionale Dimension des Einigungsprozesses nicht akzeptieren

Man kann nicht voraussetzen, dass es ein „europäisches Bewusstsein“ gibt

Nach den Erschütterungen Europas während des Irakkriegs und danach herrscht wohl Einigkeit darüber, dass Europa seine Ohnmacht innerhalb des Weltgefüges und hinsichtlich der Konflikte, die es belasten, überwinden muss. Meinungsverschiedenheiten gibt es jedoch darüber, wie und mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden soll. Wenn eine „europäische Identität“ als Grundlage gemeinsamen Handelns stilisiert wird, hat das tief greifende Konsequenzen, die ihrerseits nun „das Europäische“ unmittelbar berühren.

Man kann nicht einfach voraussetzen, wie Umberto Eco dies jüngst tat, dass „ein europäisches Bewusstsein und eine europäische Identität“ existieren. In Kontinenten wie Australien oder Lateinamerika wurden Migranten aus europäischen Ländern zum ersten Mal als „Europäer“ tituliert, doch bedeutete dies so viel wie „weiß“ und ordnete sie in ein kolonialistisches Schema ein. Im Zuge der Debatte um eine europäische Identität erinnerte Fernando Savater kürzlich daran, dass „unsere kriegerische kolonialistische Tradition uns kaum zu geeigneten Zensoren von Bestrebungen macht, die bis vor kurzem unsere eigenen waren“, zeigt sich aber davon überzeugt, dass Europa noch immer den Auftrag habe, die Menschheit zu „zivilisieren“.

Hier scheint eine eurozentrische Haltung auf, die alte Stereotypen wiederholt, etwa die der „unvergleichlichen, ausladenden kulturellen Vielfalt“ Europas, einer jener typischen Vergleiche ohne ein zweites Vergleichsglied, denn es ist unmöglich nachzuweisen, dass diese Vielfalt in Europa größer gewesen sei als etwa in Südostasien.

Es ist ein impliziter und unreflektierter Eurozentrismus, die „anderen“ unter dem negativen Etikett „Nichteuropäer“ zu subsumieren. Auch die Berufung auf jüdisch-christliche Wurzeln, die immer wieder auftaucht, kann diesem Eurozentrismus zugeschrieben werden. Diese Berufung ist zu einseitig in einem Augenblick, in dem wir Gefahr laufen, eine derartige Forderung sogar in die europäische Verfassung aufzunehmen, was für die interkulturellen Beziehungen in Europa und außerhalb Europas eine Katastrophe wäre: Wie kann man den Beitrag vergessen, den die arabische Kultur für die Konzeption von Subjektivität oder der Liebe in Europa geleistet hat? Oder, wenn wir noch weiter in der Zeit zurückgehen, die gemeinsame Basis des Heidentums, das Südeuropa mit dem Norden verband, bis hin zur großen prähistorischen Epoche, die Europa, Asien und Afrika vereinte?

Die jüdisch-christliche Perspektive kommt einer drastischen Reduzierung der europäischen Kultur gleich und missachtet fundamentale Aspekte, die es neuen europäischen Potenzialen, wie sie etwa heute aus Afrika und Asien kommen, ermöglichen könnten, zur Erschaffung neuer Formen des Zusammengehörigkeitsgefühls beizutragen – die wir nun nicht mehr mit dem erstarrten Terminus „Identität“ bezeichnen, sondern mit Begriffen wie „Identifikation“, um zu unterstreichen, dass es sich hier um einen Prozess und um emotionales Engagement handelt, die neue Formen des Europäischseins kreieren helfen. Zum Eurozentrismus gesellt sich eine Haltung, die einerseits Westeuropa bevorzugt und andererseits Europa mit der Europäischen Union verwechselt. Osteuropa nämlich spielt in dieser Debatte kaum eine Rolle.

Zwar bedienen sich Habermas und Derrida, die jüngst einen europäischen Einigungsappell verfassten, hie und da einer gefühlsbetonten Sprache und sprechen die „Macht der Gefühle“ an, die im Vorfeld des Kriegs im Irak die Bürger Europas erschüttert hat. Gleichwohl ist diese emotionale Dimension in den meisten Aufsätzen nur implizit vorhanden und wird nicht analysiert. Gefühlen aber kommt eine wichtige Rolle zu, wenn wir unseren Eurozentrismus auf die Probe stellen. Ein Indikator europäischer Identitätskonstruktion ist die Rede über die Liebe. In den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten wurde behauptet, das Subjekt des Diskurses über die Liebe könne nur weiß, christlich und männlich sein, und die Frau hätte zwangsläufig ihr Objekt zu sein, während es den Missionaren oblag, den Völkern der Welt die romantische Liebe im Verbund mit der christlichen Ehe zu predigen. Liebe galt als Abzeichen einer bestimmten Zugehörigkeit. Sie wurde zum Distinktionsmerkmal, sodass ein bestimmter Modus von Emotionalität zugleich auch eine politische Identifikation wortwörtlich in die Herzen einschrieb. So gefühlvoll man also der eigenen Zivilisation gegenüber war, so gefühllos war man gegenüber anderen.

Früher waren die Intellektuellen Bannerträger des Protests, heute laufen sie am Schluss der Demos

Wer über europäische Identität redet, redet zugleich über Liebe zu Europa. Wie soll diese Liebe aussehen? Sollte sie auf europäischer Ebene wiederholen, was sich einst im Hinblick auf die Nation ereignete? Soll Europa wieder mit dem Körper einer Frau assoziiert werden, den es entweder zu retten oder zu erobern gilt, oder mit einer Gemeinschaft des Blutes, wie die faschistischen Theoretisierer von einem „neuen Europa“ sie verstehen: eine große Familie, aus der all diejenigen ausgeschlossen werden, denen man eine andere Herkunft zuschreibt, von den Juden bis hin zu den Roma?

Möglich ist dagegen ein neuer Typus „politischer Liebe“. Er könnte als eine aus dem gegenseitigen historischen Erbe erwachsene Leidenschaft entstehen. Diese „politische Liebe“ könnte vielmehr verstanden werden als Investition in eine nichthierarchische Beziehung unter den Europäern – jede Hierarchie zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd würde somit aufgegeben – und in eine neue Beziehung zwischen Europa und der Welt.

Das Bekenntnis zu Europa im Rahmen der Februar-Demonstrationen und der diversen Friedensbewegungen enthält oftmals starke antiamerikanische Elemente. Den Europäern fiel es immer leichter, sich zu irgendjemand in Opposition zu sehen, zunächst zu Asien, dem Kontinent des Absolutismus, der in völligem Gegensatz zu dem der Aufklärung und des Fortschritts stand, später dann zu den Vereinigten Staaten. Eine Hauptaufgabe der europäischen Intellektuellen ist es, diese Haltung zu kritisieren und die Differenzen zwischen der Bush-Regierung und den Beiträgen der amerikanischen Kultur hervorzuheben und sich nicht darin zu gefallen, anders als die Amerikaner und ihnen überlegen zu sein.

Ein Hauptakzent der Debatte liegt also auf der Frage nach der Rolle der Intellektuellen und auf der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der sie Bannerträger sozialer Bewegungen waren, während sie heute nur noch am Schluss der Demonstrationszüge mitzulaufen scheinen. Ich stelle eine Diskrepanz fest (und frage mich, wie es dazu kommt) zwischen den Beiträgen, welche die Intellektuellen in der Vergangenheit geliefert haben, und den Positionen, die sie in der augenblicklichen Debatte einnehmen.

So hatte beispielsweise Derrida in „L’autre cap“ präzise das Bestreben formuliert, das viele von uns teilen, nämlich Europäer „unter anderem“ zu sein, sprich: sich nicht durch eine einzige Identität eingrenzen zu lassen, sondern zugleich Frau, Jude, Afrikaner etc. zu sein, wodurch man sich „auf die Seite der anderen“ stellte. Vielmehr führen uns gerade jene scheinbar „schwachen“ Subjekte vor Augen, wie man die Identifikationsmöglichkeiten mit Europa vollkommen in Frage stellen kann. In diesem Zusammenhang ließe sich als „eine(r) von uns“ nicht nur der Bürger oder die Bürgerin einer anderen europäischen Nation bezeichnen, sondern dazu zählten eigentlich auch all jene, die in Europa arbeiten und die europäische Staatsangehörigkeit anstreben, auch wenn sie Muslime, Buddhisten, Atheisten oder Heiden sind.

Die arabische Kultur hat in Europa die Konzeption der Subjektivität und der Liebe geprägt

Gleichermaßen haben wir aus der langen Debatte um „Öffentlichkeit“ gelernt, dass das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit nicht absehen kann von der Vielfalt, von der Dezentralisierung, aber auch nicht von der Herausforderung, diese Öffentlichkeiten hierarchisch zu organisieren.

Ich denke dabei an die Bedeutung der mannigfachen Öffentlichkeiten in den lateinamerikanischen Ländern, wo erst kürzlich deutlich wurde, wie ungewöhnlich eng Öffentliches und Privates verwoben sind. Von alldem findet sich in der aktuellen Debatte keine Spur. Im Gegenteil. Warum erheben die Intellektuellen ihre Stimme, lassen aber das Besondere ihrer Beiträge auf kulturellem Gebiet beiseite? Warum holen wir die Kultur nicht vom „Himmel der Festreden“ herab, wie es der Schweizer Romancier Adolf Muschg gefordert hat – und werfen sie ins Feuer der Debatten? LUISA PASSERINI