: Strandgut auf Spiekeroog
Klein ist die ostfriesische Insel, die Wege sind kurz, Autos sinnlos und deshalb verboten, Fahrräder eigentlich auch. An guten Tagen lockt der endlose Sandstrand, an schlechten das Inselmuseum mit seinen Zeugnissen von Schiffbrüchen und Seeräuberei
VON JOHANNES WINTER
Schmal ist die Rinne, dünne Stäbe markieren den Wasserweg, zwischen den Sandbänken tuckert die Fähre nur langsam vorwärts. Wie oft sie am Tag verkehrt, hängt ab von Ebbe und Flut, manchmal ist es vier-, manchmal zweimal. Legt sie endlich an, dann schreien die Möwen los. Das kommt den Urlaubern wie gerufen. Jetzt sind sie wirklich am Ziel. Der Hafen ist wie üblich auf der Wattseite, dem Festland zugewandt, dort, wo sich nur nasses Grün dehnt, das hier Queller heißt. Es ist gespickt mit Würmern wie der Deich mit Schafen.
Spiekeroog gehört zum Archipel der Ostfriesischen Inseln, die wie eine Kette vor der Küste liegen. Jedes Eiland lockt mit einem riesigen Strand, auf den die Sehnsucht aller gerichtet ist, die auf dem Festland zu Hause sind.
Klein ist die Insel, die Wege sind kurz, Autos sinnlos und deshalb verboten, Fahrräder eigentlich auch, die behalten sich die Insulaner vor. Für das Gepäck gibt es Bollerwagen, die scharenweise auf der Wiese am Hafen warten, Lasttaxen aus Holz, aber zur Selbstbedienung. Mit einem Wimpel versehen, sind sie auch bei den Kindern beliebt. Mehr noch, sie sind Vehikel der Langsamkeit. Die Deichsel in der Hand macht einen gelassen. Nur den jungen Insassen im Handwagen kann es oft nicht schnell genug gehen. Zum Strand nehmen wir daher den Damenpad, der an ein nach Geschlechtern getrenntes Badevergnügen erinnert. Der kürzeste Weg durch die Dünen zum Meer war den Frauen vorbehalten.
Als begann, was damals „Sommerfrische“ hieß, da lebte Johannes Meyer-Deepen noch nicht, aber seine Großeltern haben ihm davon erzählt, von den Badekutschen, die bis ins Wasser gezogen wurden, damit sich Frauen und Männer streng getrennt umziehen konnten. Mayer-Deepen ist der Chronist von Spiekeroog. Sein Leben umspannt fast das ganze vorige Jahrhundert. Der ehemalige Berufsoffizier stammt aus einer Kapitänsfamilie, in seiner Freizeit hat er fast alles, was die Geschichte der Insel bietet, zusammengetragen.
Zum Beispiel das Thema Schiffbruch: In alten Zeiten bedeutete ein Schiff auf dem Strand, dass für die Insulaner Festtag war, denn nach jenem Recht durften sie von dem, was dem schönen Begriff „Strandgut“ unterworfen war, ein Drittel als ihr Eigentum ansehen. Das nahmen sie, die vom Fischfang mehr schlecht als recht lebten, zu ihren Gunsten oft nicht so genau, galt doch Strandräuberei als anerkannte Nebenbeschäftigung.
Davon zeugt auch das Inselmuseum, das in einem niedrigen Holzhaus untergebracht ist. Gleich der erste Blick, kaum dass die Museumstür sich quietschend öffnet, fällt auf das, was sich sonst nur in Kirchtürmen findet, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen. An der Wand hängt die Schiffsglocke mit dem Aufdruck „Johanne“. Ihr Anblick löst dem Dorfchronisten die Zunge. Vom schrecklichen Ende des Auswandererschiffs „Johanne“ hören wir und stellen fest, dass in diesem Jahr Gelegenheit wäre, sich der größten Katastrophe der Inselgeschichte zu erinnern. Vor genau 150 Jahren war es, in einer Orkannacht des Jahres 1854, als haushohe Wellen die Dreimastbark „Johanne“, die mit über 200 Auswanderern an Bord auf dem Weg nach Amerika war, auf den Strand von Spiekeroog warfen, wo sich alsbald die Insulaner versammelten und erwartungsvoll nach Beute Ausschau hielten. Wie üblich, um erst mal zu „ramschen“, zum Retten war ja immer noch Zeit – meint Meyer-Deepen trocken. Unklar ist übrigens nach wie vor, ob sich aus solchen Aktivitäten der Name Spiekeroog erklärt, der Speicherinsel bedeutet.
Vor aller Augen und Ohren vollzog sich das Drama des Schiffbruchs. Im tobenden Sturm zerrissen Segel, brachen Masten. Vom schwankenden Deck drangen verzweifelte Hilferufe. Zwischen Planken und Koffern wurden irgendwann die ersten Kinderleichen den wartenden Insulanern vor die Füße geschwemmt. Selbst wenn sie hätten helfen wollen – ein Rettungsboot gab es auf der Insel nicht.
Der Vorraum der Inselkirche fasste die Toten nicht, denn alles in allem kamen 80 Auswanderer ums Leben. Meist waren es Frauen und Kinder, die geflohen waren vor dem Elend ihrer hessischen oder bayerischen Dörfer. Ihre kärglichen Höfe oder Werkstätten hatten sie verlassen und waren in die Neue Welt aufgebrochen, um im gelobten Land jenseits des Meeres ein besseres Leben zu finden.
Von Meyer-Deepen wissen wir, dass zwischen den letzten Häusern der „Drinkeldoden-Karkhof“ liegt, der Friedhof der Ertrunkenen. Einer seiner Vorfahren, Reimer Oltmans Jansen, war dabei, als hier die Toten der „Johanne“ begraben wurden, in Segeltücher gehüllt und im Sand verbuddelt. Für Särge war kein Geld da, und der Friedhof an der alten Inselkirche reichte für so viele Leichen nicht aus.
Doch die Ruhestätte am Tranpad schrumpft, ihren Boden fressen Ferienhäuser, Bungalows machen sich breit und wachsen den Dünen entgegen. An die raue Vergangenheit erinnert nur noch das steinerne Mahnmal mit Kreuz, Anker und Kette, unter einem Weißdornbusch verborgen.
Der Bollerwagen rollt, für die Kinder gibt es kein Halten mehr, der Weg durch die Dünentäler wird zur Rennstrecke. So toben sie dem Strand entgegen, wo eitel Sonnenschein die Urlaubsgemeinde brät, die sich in einen süßsauren Duft aus Sonnenöl und Meeresluft aalt. Seevögel kreisen über Sandburgen und Strandkörben, Drachen knattern, Beachballspieler jauchzen, Radios dröhnen. Eine Brise zerlegt die See in weiße Kämme. Über das wellige Parkett gleiten die Surfer, reißen ihre Segel von einer Wende zu nächsten, als sei Tanzstunde auf dem Wasser. Am Horizont schieben sich mächtige Öltanker vorüber. Gestrandet sind nur ein paar silberne Quallen.
Infos: Nordseebad Spiekeroog GmbH, Kurverwaltung & Schifffahrt, Postfach 1160, 26466 Spiekeroog, Tel. (0 49 76) 9 19 31-01, www.spiekeroog.de