: Schwarzwald, Wüste und Wellen
Die Kapverden-Insel Santo Antão fasziniert durch landschaftliche Kontraste. Viele der Einheimischen leben vom Geld ihrer Verwandten in Übersee
VON FRANK LUERWEG
Von den Tropen bis zur Wüste sind es vielleicht zehntausend Schritte, drei Stunden vom saftigen Grün der Kammlagen zum verdorrten Ocker und Rot der Küste, 1.500 Höhenmeter von frühsommerlichem Bienengesumm und Vogelgezwitscher zu den weißen Feldern aus Porzellanasche, die unter den Füßen knirschen wie hart gefrorener Schnee. Wer von den bewaldeten Höhen des Pico da Cruz über die verlassene Geisterstadt Mesa nach Porto Novo wandert, durchquert zwei Kontinente: Dort oben ist der Schwarzwald, dort unten die Sahelzone. Auf der Kapverden-Insel Santo Antão, eine gute Flugstunde südlich von Teneriffa, ist Regen ein seltenes Glück. An ihrer Nordküste aber treibt der Passatwind regelmäßig Nebelfetzen über die messerscharfen Bergrippen und drückt sie gegen die schroffen Abhänge. Sträucher und vor allem die Kiefern der Hochlagen „melken“ die feuchte Luft – an manchen Tagen kämmen die Nadeln eines einzigen Baumes zweihundert Liter Wasser aus den Wolken. Abseits dieser grünen Oasen herrscht lebensfeindliche Dürre, der nur ein paar knochige Ziegen trotzen.
Der Motor des Sammeltaxis heult auf, während der Toyota-Pick-up über das Kopfsteinpflaster bergan rattert. Auf zwei schmalen Holzbänken suchen sieben blasse Europäer nach Halt, um nicht in der nächsten Kurve von der Ladefläche zu fegen. Irgendwann geht es nicht mehr bergauf, und dann, plötzlich, wird die Szenerie schroff; zu beiden Seiten der schmalen Straße stürzt der Hang über 600 Meter fast senkrecht in die Tiefe. Der Fahrer hält. Tief unten wachsen Bananen und Zuckerrohr; zwischen terrassierten Feldern mit Mais stehen kleine Spielzeughäuser.
Still ist es hier oben; wer ganz genau lauscht, kann das Tosen des Atlantiks hören. Vielleicht ist es aber auch nur der Wind, der an den T-Shirts zerrt. Der Fremdenverkehr fasst auf Santo Antão gerade Fuß. In Vila das Pombas, Ribeira Grande und Ponta do Sol, den drei größten „Städten“ im Norden (Ribeira Grande hat gerade mal 3.500 Einwohner), gibt es schon ein paar einfache Hotels. Der größte Schwung der Kapverden-Touristen aber bleibt auf Sal hängen – unter den neun bewohnten Inseln des Archipels die einzige mit einem internationalen Flughafen. Ein Paradies für Wassersportler, das aber sonst nicht viel zu bieten hat – nur Wind, Sand, Steine, ein paar braune Hügel und ein wenig Salz.
Die Hotelanlagen auf Sal sind größtenteils in europäischer Hand. „Cabo Verde profitiert davon nur wenig“, klagt Aldevino Lopez. „Angeblich müssen die Investoren dort sogar zehn Jahre keine Steuern zahlen.“ So will die Regierung den Tourismus fördern. „Dabei ist es hier auf Santo Antão viel schöner. Auf Sal gibt es nichts.“ Der Mann mit den grauen Haaren und der blauen Baseballkappe, auf der die Aufschrift „Hattersheim am Main“ noch zu erahnen ist, ist vor mehr als vier Jahrzehnten nach Europa emigriert. „Ich stand 35 Jahre im Dienst der Seefahrt“, sagt er in perfektem Deutsch, „mein Heimathafen war Hamburg.“ Bis ihn das Heimweh zurücktrieb in das Fischerdorf Ponta do Sol im Nordwestzipfel der Insel mit seinen pastellfarben getünchten Häusern.
Es ist heiß, obwohl die Sonne schon tief steht. Eine Hand voll Männern spielt im Schatten der Hafenmauer Karten, ein paar Zehnjährige angeln daumenlange silberne Fische aus den heranbrandenden Fluten des Atlantiks.
Als ein Boot in das geschützte Hafenbecken einläuft, ist es vorbei mit der Ruhe zwischen den bunten Fischerbooten. Jung und Alt packt mit an, um den Kahn mit Seilen aus dem seichten Wasser an Land zu ziehen. Mit ein paar geschickten Messerschnitten zerlegen die Fischer ihren Fang und verkaufen die Stücke noch am Hafen.
Eine halbe Stunde später hat sich der Trubel gelegt. Dona Fátima Leocadio zieht mit ein paar großen Filets ab, die heute Abend die knurrenden Mägen von einigen französischen Wanderern besänftigen sollen. Die untersetzte 60-Jährige trägt einen dieser gemusterten Kittel, wie sie vor dreißig Jahren die Besitzerinnen westfälischer Tante-Emma-Läden trugen. Sie hat im Elsass in einer Bäckerei gearbeitet, bis sie mit ihren Ersparnissen zurückkehrte und in Ponta do Sol ein Restaurant aufmachte. Die Senhora kocht gut und reichlich, und das hat sich herumgesprochen: „Chez Fátima“ ist mal wieder ausgebucht.
Auf jeden der 400.000 Insel-Kapverdier kommen zwei Emigranten. Allein zwischen 1900 und 1973 haben mehr als 260.000 Menschen ihr Land verlassen; in den USA leben heute mehr Kapverdier als auf dem westafrikanischen Archipel. Hunger, Dürreperioden und Armut trieben die Auswanderer dazu, ihr Heil in Nordamerika oder in Europa zu suchen. Für die Inseln, die bis 1975 portugiesische Kolonie waren, sind sie heute eine wichtige Geldquelle: Jede zweite Familie wird von Verwandten im Ausland finanziell unterstützt – oft seit Generationen, manchmal ohne dass sich Absender und Empfänger der Geldsendungen noch persönlich kennen. Auf jedes 100-Escudo-Stück, das Cabo Verde erwirtschaftet, kommen so nach Schätzungen noch einmal 30 Escudo aus den Taschen der Emigranten.
Von Ponta do Sol führt ein kleiner Küstenweg nach Südwesten. Nach 45 Minuten erreicht er das Örtchen Fontainhas, das am Felsen klebt wie eine Fliege an der Scheibe. Die Einwohner fassen sich zum Gruß höflich an die Krempe ihrer Baseballkappe oder recken mit einem „Boa tarde“, „Guten Tag“, den Daumen in die Höhe. Ein paar Kurven weiter liegt ein Fußballplatz, wie mit der Wasserwaage akkurat in die Schlucht gebaut: Ausdruck der Fußballbegeisterung, die hier überall zu spüren ist.
Ein ganzes Netz aus schmalen Eselspfaden durchzieht die Insel, zum Teil gepflastert, zum Teil unbefestigt, manche völlig zugewuchert. Die meisten sind gerade mal breit genug für einen Fußgänger oder das Vieh. In engen Schleifen winden sich die Wanderpfade zu Tal oder kleben als schmales Band an den schroffen Hängen. Die Kinder, barfuß trotz der scharfkantigen Steine, nehmen selbst die steilsten Passagen im Spurttempo – es sei denn, sie begegnen einem Touristen. Denn die verschenken erfahrungsgemäß manchmal Geld oder einen Stift, wenn man sie mit einem auffordernden „Stylo!“ (Kugelschreiber) begrüßt – diese Chance kann man sich einfach nicht entgehen lassen.
Kinder lachen und kreischen, schwarze Leiber klatschen ins Wasser – die Dorfjugend nutzt den aufgestauten Bachlauf im Talgrund als Freibad. Fabio und Thierry finden die beiden Beobachter aus Deutschland interessanter. Fabio schlägt Rad, Thierry steht Kopf. Die beiden tuscheln, ihre Zähne blitzen weiß auf, und sie verschwinden in einem der Felder am Bachlauf. Einer der drei Meter langen, silberweißen Wedel zittert und biegt sich zu Boden; einen Moment später sind die Jungen wieder da und drücken den Touristen halb schüchtern, halb stolz ihre bambusähnliche Trophäe in die Hand. „Cana“, erklären sie, „Zuckerrohr“, und reiben sich den Bauch. Als ihre neuen Bekannten nur dümmlich gucken, zeigen sie ihnen, wie man mit den Zähnen die Rinde schält, um an das weiße Mark zu gelangen. Dort sitzt der süße Saft, den die Bauern Santo Antãos zu Grogue verarbeiten. Der weiße Rum ist das wichtigste landwirtschaftliche Produkt der Insel und außerdem eine Art Nationalgetränk: Gerade die Emigrantengemeinden in Europa und den USA schätzen Santo-Antão-Grogue als hochprozentige Medizin gegen „Sodade“ (Sehnsucht oder Heimweh), besonders wirksam zu den wehmütigen Mornas Cesaria Evoras oder den Klängen der aktuellen musikalischen Neuentdeckung „Corda do Sol“.
Aus manchen Bergen der Insel wachsen Wände: Vor Jahrtausenden presste der Vulkanismus dünnflüssiges Magma in die schmalen Risse im Gestein. Diese harte „Füllung“ widerstand dem Wind und den seltenen Wolkenbrüchen; das umgebende weichere Material dagegen erodierte mit der Zeit. So entstanden beeindruckende Mauern, manche nur dreißig oder vierzig Zentimeter dick, von denen besonders viele bei Ribeira das Patas im Zentrum Santo Antãos zu bewundern sind. Von hier wagen einige Besucher Santo Antãos auch den Aufstieg in die südliche Hochebene mit ihren farbenfrohen Vulkankegeln und der höchsten Erhebung der Insel, dem knapp 2.000 Meter hohen Tope de Coroa.
Unüberwindbar scheint die Felswand von Norte, bis der halsbrecherische Pfad sichtbar wird, der sich in steilen Serpentinen die 800 Meter zur Hochebene emporwindet. Dort schweift der Blick über eine sanfte Hügellandschaft in Weiß, Braun und Ocker. Vertrockneter Lavendel bedeckt den Boden. Am Wegesrand blinzeln zwei zottige Esel gelangweilt in die Sonne. Und dann, wie eine Fata Morgana, ein paar Felder mit Mais und Bohnen: Der Regen war gut dieses Jahr, die Wasserspeicher sind reichlich gefüllt. Doch je näher die Vulkankegel rücken, desto dünner die Vegetation, bis schließlich nur noch ein paar dürre Grasbüschel für einige blassgrüne Farbtupfer sorgen. Das ist die andere, die unbekanntere Seite Santo Antãos, karg, aber mit ihrem ganz eigenen, strengen Charme.
Infos: Botschaft der Republik Cabo Verde, Dorotheenstraße 43, 10117 Berlin, Tel. (0 30) 20 45 09 55 www.embassy-capeverde.de