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Archiv-Artikel

Die Mutter einer Totgesagten

„Zur Überraschung aller hat das Kind überlebt“, sagt der Anwalt

AUS MÜNCHEN FRIEDERIKE GRÄFF

„Die Natur ist ja so, es gibt Kranke und Gesunde, aber wenn man es verhindern kann“, beginnt Ayse Sevgi*, während ihre Tochter im Türrahmen steht und summt. Sie bringt den Satz nicht zu Ende. Sema* ist siebzig Zentimeter groß, so groß wie ein einjähriges Kind. Die Ärzte haben damals nicht geglaubt, dass sie die Geburt überleben würde, und wenn man die Klageschrift liest, denkt man, dass sie es auch nicht sollte.

Die Klage hat viele Gutachten, die schwierig zu verstehen sind, es geht um an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit und darum, was man durch die Messung eines Röhrenknochens hätte erfahren können. Aber das Wesentliche steht eigentlich gleich zu Beginn, unter Punkt Nummer zwei: „Die Fehlbildung stellt wrongful life dar“, und man denkt, dass man sich auf den englischen Begriff geeinigt hat, weil man so etwas leichter in einer fremden Sprache sagt.

„Wrongful life“ bedeutet, dass Ayse Sevgi das Kind abgetrieben hätte, wenn sie rechtzeitig erfahren hätte, dass es behindert sein würde. Aber da war sie schon in der 35. Woche schwanger.

Die Sevgis wohnen in München, in einer dieser Siedlungen, bei denen ein netter Name die Hochhäuser ein bisschen verschönen soll. Im Wohnzimmer stehen die Porzellandamen sehr ordentlich in der Glasvitrine, auf dem Sofa sitzt Ayse Sevgi mit ihrer Tochter. Sie ist 30 Jahre alt, aber sie wirkt jünger mit dem mädchenhaften Gesicht. Sema rennt ein bisschen x-beinig, aber zügig durchs Zimmer. Sie müssen beide viel Energie haben. Es muss mühsam sein, zu laufen, wenn die Beine eigentlich zu kurz sind für den Oberkörper. Und es muss mühsam sein, einen Prozess zu führen, wenn man die Sachverständigen selbst im Internet zu finden versucht.

„Die Schwangerschaft war eigentlich gut“, sagt sie, zumindest bis zur 32. Woche, als die Vertretung ihrer Frauenärztin am Ultraschall sieht, dass etwas mit dem Skelett des Kindes nicht stimmt. Sie wird in eine Fachpraxis geschickt, die Ärztin dort stellt eine letale Skelettdysplasie fest. „Sie haben mir gesagt, dass es kurze Arme und Beine haben wird“, sagt Ayse Sevgi. Sie stellt sich ein Kind fast ganz ohne Arme und Beine vor, ein Kind, dessen Hände fast unmittelbar an den Schultern beginnen.

„Willst du nicht rausgehen?“, fragt sie Sema auf Türkisch, Sema schüttelt den Kopf und legt eine Reihe Schokopops vor sich auf den Tisch. Die Reihe ist sehr ordentlich, sie isst die letzten auf, und dann legt sie neue nach.

Ayse Sevgi ist eine zärtliche Mutter, es ist der Blick, mit dem sie die Schokopops-Reihe betrachtet und es ist der Ton, in dem sie sagt: „Sema ist wie ein Junge, sie ist kein braves Mädchen.“ Sie möchte nicht, dass ihre Tochter von dem Prozess erfährt, sie sagt: „Klage, das hört sich komisch an.“ Aber hier auf dem Sofa erzählt sie weiter, während Sema neben ihr sitzt. Das ist schwierig zu verstehen, vielleicht muss man in seinem Kopf eine Trennlinie ziehen, sodass der Fötus der Schwangerschaft nichts mit ihrer Tochter zu tun hat. Man muss sich sicher sein, dass die Tochter weiß, dass sie heute willkommen ist, oder dass sie nicht versteht, was ihre Mutter erzählt.

Am Tag nach der Untersuchung geht Ayse Sevgi in eine andere Praxis, die Diagnose ist die gleiche: Skelettdysplasie und Lungen, die zu klein zum Überleben sind. „Man kann nichts machen“, denkt sie, „wenn das Kind sowieso stirbt, dann will ich nicht noch einen Monat schwanger herumlaufen.“ Ayse Sevgi fährt in die Klinik, um die Geburt einleiten zu lassen. Aber vorher geht sie noch zu ihrer Frauenärztin, die auf den Ultraschallbildern nie ein Anzeichen für eine Fehlbildung gesehen hat, und legt ihr die Diagnose auf den Schreibtisch. „Oh, das tut mir Leid“, sagt die Ärztin. „Ich werde noch einmal wegen einer Klage kommen“, antwortet Ayse Sevgi. In der Klinik sagen die Ärzte, dass das Kind wahrscheinlich sterben wird, aber sie schließen auch nicht aus, dass es überlebt.

Ayse Sevgi ist in der 35. Woche schwanger. In der Klage steht, dass sie wegen der schweren psychischen Traumatisierung eine Abtreibungsindikation bekommen habe. Die Klinikärzte sagen ihr, dass es für eine Abtreibung zu spät ist. Sie hätten auch anders entscheiden können. Nach dem neuen Abtreibungsgesetz gibt es bei der so genannten mütterlichen Indikation keine Fristen mehr; dennoch hat sich die deutsche Ärztekammer verpflichtet, keine Abtreibungen nach der 22. Schwangerschaftswoche vorzunehmen – es sei denn, das Leben der Mutter ist aus seelischen oder körperlichen Gründen bedroht.

„Man hätte den Arm um sie legen müssen und sagen: Wenn Sie sichergehen wollen, telefonieren wir mit einer anderen Klinik“, sagt Klaus von Schirach, der Anwalt von Ayse Sevgi. Wenn er „sichergehen“ sagt, meint er, sichergehen, dass das Kind stirbt. Von Schirach sieht ein bisschen aus wie Richard von Weizsäcker und ein bisschen wie Gunter Sachs, er betrachtet manchmal seine sehr gut geschnittenen Fingernägel, während er spricht. „Zur Überraschung aller hat das Kind überlebt“, sagt Klaus von Schirach. Er setzt kein Adjektiv vor diese Überraschung, aber nach der Klageschrift zu urteilen, fand niemand, dass es eine gute war.

In der Klage steht: „Da man […] darauf verwiesen hatte, dass das Kind nicht lebensfähig wäre, hatte sich die Klägerin daran geklammert und freilich auch darauf verlassen, dass die Ärzte das Kind nicht (wie geschehen) nach einer kurzen Abwartezeit unterstützen, sondern dass sie es liegen lassen würden.“

Ayse Sevgi hört das Kind weinen nach der Geburt, aber sie will es nicht sehen. Nach drei Tagen sagt ihre Mutter am Telefon: „Du kannst ihr das nicht antun“, sodass sie doch herübergeht zur Säuglingsstation. Sie findet ihre Tochter hübsch, sehr hübsch. „Sie hat schon Arme und Beine“, denkt sie, „warum haben sie mir so einen Schmarren erzählt?“ Sie hat keine Milch, weil sie vor der Geburt Tabletten dagegen bekommen hat. „Auch ein Fehler“, sagt sie, und man denkt, dass sie manchmal vorwärts und manchmal rückwärts denken muss und dass man dabei manchmal nicht hinterher kommt, weil die Wechsel zu plötzlich sind.

Nach fünf Monaten kommt Sema nach Hause. Ihre Lungen sind voll Schleim, sie werden stündlich abgesaugt, sie hat eine Magensonde, und an ihrem Fuß hängt ein Apparat, der Alarm schlägt, sobald zu wenig Sauerstoff im Blut ist. „Das Kinderzimmer sah aus wie eine Intensivstation“, sagt ihre Mutter. Die Krankenkasse zahlt die Geräte, Sema bekommt 410 Euro Pflegegeld im Monat. Damit kommen sie ganz gut über die Runden. Der Alltag ist mühsam, aber sie schaffen es. Sie feiern den ersten Geburtstag, mit einer Torte, „Sema“ steht darauf in Zuckerschrift geschrieben, und die Verwandten kommen und gratulieren. „Sema zeigt die Liebe“, sagt Ayse Sevgi.

Und gleichzeitig muss sie in diesen Jahren darüber nachgedacht haben, warum nicht ihre Ärztin, sondern erst deren Vertretung etwas Auffälliges festgestellt hat. Sie weiß, dass drei Jahre nach der Geburt eines behinderten Kindes die Klagefrist abläuft. Die Kollegen ihres Mannes fragen: „Warum klagt ihr nicht? Das schafft ihr sicher.“ Schließlich ruft sie einen Rechtsanwalt an. Sie verklagt die Frauenärztin auf Unterhalt. „Soll sie auch einen Schreck kriegen, damit sie später anders arbeitet.“ Das ist das eine. Und das andere: Sema soll später wenigstens keine finanziellen Probleme haben.

„Sie haben mir gesagt, dass das Kind kurze Arme und Beine haben wird“

Es ist, als glaubte sie, dass sie ihrer Tochter diesen Prozess schulden, und als gäbe es trotzdem Momente, ganz selten, in denen sie ihn ihr am liebsten verheimlichten. Wie soll man erklären, was Wrongful Life ist? Der Prozess zieht sich hin, 14.000 Euro zahlen die Sevgis, sie nehmen es von ihrem Ersparten. Als sie vier ist, sagt Sema: „Ich will selber essen.“ Sie reißt sich immer wieder das Beatmungsgerät ab. „Man hörte deine Stimme hinter dem Gerät gar nicht“, sagt Ayse Sevgi zu ihr. Sie nimmt die Geräte immer häufiger ab. „So etwas können Sie doch nicht machen“, sagen die Ärzte. Als Sema fünf ist, nimmt man ihr die letzten Kanülen ab.

Sie geht in die Grundschule, in eine integrierte Klasse, wo sie sich ein bisschen mehr Zeit lassen kann. An guten Tagen schafft sie allein die vier Treppen zur Haustür. Die Sevgis fahren zu einem Treffen für Kleinwüchsige und ihre Familien nach Ingolstadt, damit Sema sieht, dass sie nicht allein ist. „Fast alle scheinen zufrieden zu sein“, meint Ayse Sevgi. Jedes Jahr kommen neue Kinder dazu. „Dann denke ich, die Ärzte haben es nicht gesehen, und manche sind vielleicht auch gegen Abtreibung.“

Sie sagt das ohne besondere Betonung, die zufriedenen Kinder sind das eine, und die Ärzte, die es nicht sehen, das andere. Sie fragt sich, wie es Sema in der Pubertät ergehen wird, sie erinnert sich, wie sie selbst damals angefangen hat mit Schminke und Frisuren. Und dann wieder sagt sie das Gegenteil, dass sie sich keine Sorgen macht um die Zukunft, vielleicht stimmt beides, und man denkt, es ist wie bei den Diagnosen der Ärzte, vielleicht lebt das Kind, vielleicht auch nicht.

Nach vier Jahren verlieren sie den Prozess. Die Richter entscheiden, dass es ein grober Behandlungsfehler der Ärztin war, den Röhrenknochen nicht zu messen. Aber sie glauben dem Gutachter, der sagt, dass auch eine solche Messung keine eindeutige Diagnose ermöglicht hätte. „Es war schrecklich“, sagt Ayse Sevgi. „Ich dachte, wenn jemand einen Fehler macht, hat man eine Chance, zu gewinnen.“ Sie sucht im Internet nach neuen Experten, sie telefoniert mit ihnen und fragt, ab wann man denn eine Skelettdysplasie erkennen kann.

Schließlich ruft sie eine Mutter an, die auch ein kleinwüchsiges Kind hat. „Wissen Sie, ob man dem Kind schon während der Schwangerschaft ansehen kann, dass es behindert ist?“ – „Was wollen Sie denn erreichen?“, sagt die andere Mutter, und dann sprechen sie, aber keine kann die Frage der anderen beantworten. „Ich muss es irgendwie zu Ende bringen“, sagt Ayse Sevgi und legt Berufung ein.

* Namen geändert