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Archiv-Artikel

Schanghai – die west-östliche Diva

Die Gegenwart der chinesischen Boomstadt ist manchmal schwer zu ertragen, ihre Vergangenheit scheint sich aufzulösen. Doch Schanghais Uferpromenade, der Bund, soll wieder glänzen. Am Fluss Huangpu errichteten die Briten eine Niederlassung außerhalb des historischen Stadtzentrums

TIPPS ZU SCHANGHAI

Die Hafenstadt ist die bedeutendste Industriestadt Chinas und von der Einwohnerzahl her die zweitgrößte Stadt nach Chongqing. Schanghai liegt im Mündungsgebiet des Jangtsekiang am Fluss Huangpu.

Unterwegs in Schanghai: Taxifahren ist günstig. Die Fahrer verstehen kein Englisch und können nur chinesische Schriftzeichen lesen. Visitenkarte des Hotels mitführen, um zurückzufinden! Übernachten: Eine gute Sicht auf den „Bund“ und auf die Skyline von Pudong hat man aus den Zimmern des Hyatt on the Bund, shanghai.bund.hyatt.com, 199 Huangpu Road, Schanghai, Tel. +86 21 63 93 12 34. DZ ab 140 Euro, geniales Preis-Leistungs-Verhältnis! Reiseführer: DuMont Shanghai, 12 Euro. Extrem praktisch, da alle Namen auch in chinesischer Schrift abgebildet sind. Dem Taxifahrer zeigen, und los geht’s.

VON BARBARA SCHAEFER

Wir verabreden uns auf der Garden Bridge. Zwei Fremde in der Stadt, nach langen Flügen am selben Tag angekommen. Er rief an, vom Hotel aus, als ich am „Bund“ entlangspazierte, Schanghais Uferpromenade. Die Garden Bridge führt über den Suzhou Creek zum Bund, alles erbaut vor rund hundert Jahren. Abenddämmerung taucht die schwere Luft in gnädiges Rosé. Ich suche die Brücke. Sie ist verschwunden. Eine weitere staubige, laute Straßenbaustelle stellt sich dem Verkehr in den Weg. Wieder ein Stück historisches Schanghai, das der Moderne weichen muss. Befangen stolpern zwei Menschen über Umwege, Steine und Schotter aufeinander zu.

Doch diese Geschichte hat ein gutes Ende, jedenfalls für die Brücke. Sie liegt in einem Depot und wird renoviert, wie das gesamte einstige Prunkstück von Schanghai, der Bund. „Bund“ ist ein angloindisches Wort, es bedeutet Kaimauer. Am Fluss Huangpu hatten die Briten im 19. Jahrhundert eine Niederlassung errichtet, außerhalb des historischen Schanghai. Der Kolonialhandel nahm zu, die Grundstückspreise stiegen, es wurden immer höhere Gebäude errichtet, in prunkvollem Stil, genauer gesagt: in allen Neostilen, die in Europa gerade en vogue waren. 52 solcher Paläste, Banken, Hotels, Handelshäuser, schoben die Skyline Schanghais in den Himmel. Der Bund war das Herz des kolonialen Schanghai, an der breiten Promenade gab es einen britischen Park, Chinesen hatten keinen Zutritt, was für Aufruhr sorgte. 1865 erleuchteten Gaslaternen die Straße, das muss mindestens so aufsehenerregend gewesen sein wie die heutige nächtliche Neonillumination.

Hier wurde, vor allem mit dem Opiumhandel, viel Geld verdient. Kein Wunder, dass nach der Machtergreifung der Kommunisten der Bund demontiert wurde. 1949 waren die Gebäude enteignet worden, Stuck und Schmuck an den Fassaden wurden abgeschlagen, Fenster zugemauert, Räume verrammelt. Erst in den 1990er-Jahren, als der Kapitalismus zurückkam nach Schanghai, besann man sich der west-östlichen Diva, die immer schon Kommerz und Eleganz, China und Koloniales vereinte. Nun konnten die internationalen Banken ihre Häuser zurückkaufen, doch die meisten zogen auf die andere Seite des Flusses, nach Pudong, das moderne Hochhaus- und Finanzzentrum.

Die 1990er-Jahre waren in Schanghai der Beginn des Autozeitalters. Entsprechend wurde der Bund umgestaltet. Die Promenade am Fluss wurde erhöht, Bäume wurden gefällt. Für Fußgänger fast nicht mehr zu erreichen sind seither die Kolonialbauten, durch den reißenden Verkehrsstrom vom Huangpu getrennt. Nun fiebert Schanghai der Expo 2010 entgegen, dafür wird die Stadt umgekrempelt, auch der Bund.

Entworfen hat den Masterplan das amerikanische Architektenbüro Skidmore, Owings and Merrill (SOM). Die schufen schon in Pudong den eleganten Wolkenkratzer Jin Mao Tower, bauen derzeit in Dubai mit dem Burj Dubai das höchste Gebäude der Welt und machten aus den London Docks die moderne Canary Wharf. Der Bund soll Fußgängerzone werden, Bäume sollen die Promenadenatmosphäre wiederherstellen. Der Fluss soll wieder Teil der Stadt werden, statt sie zu teilen. Gigantische Gräben klaffen nun vor den kolonialen Fassaden, der Verkehr soll unterirdisch mehrstöckig sechsspurig fließen. Es werden zwei neue Tunnel unter dem Fluss nach Pudong gebaut. Und dann wird die 1906 gebaute Garden Bridge auch wieder über den Nebenfluss Suzhou gehievt.

Dabei wurde der Bund auf Schlamm gebaut. In den 1920er-Jahren fanden auch dreihundert Meter tiefe Bohrlöcher keinen festen Grund. Tausende von importierten Baumstämmen stützten die Häuser auf Stelzen. Ein Architekt sagte damals, Schanghai könne höchstens sechs Stockwerke hoch bauen, London sechzig, New York und Hongkong beliebig hoch. Heute zählt Schanghais höchstes Gebäude 101 Stockwerke.

Markante Säulen der kolonialen Skyline sind die Bank of China, ein Hochhausturm wie im frühen New York, der Uhrturm „Big Ching“ des ehemaligen britischen Zollhauses, der wie Big Ben schlägt, der Kuppelbau der Hongkong and Shanghai Bank. Und natürlich das 1930 erbaute Sassoon House mit seinem Turm mit grüner Haube. Es muss eines der elegantesten Hotels in Asien gewesen sein. Vicki Baum hat ihren Roman „Hotel Schanghai“ wohl dort angesiedelt. Zuletzt hieß es Peace Hotel, ist aber nun schon einige Jahre geschlossen.

Nicht so „Bund 18“. Das ehemalige Bankgebäude mit mächtigen Säulen an der Fassade ließ ein taiwanisches Unternehmen von dem venezianischen Architekten Filippo Gabbiani renovieren. Dessen Familie hatte, als Filippo noch ein Kind war, Marco Polos Haus in Vendig gekauft. Seit damals, so der Architekt, habe ihn China fasziniert. Ein Jahr dauerte die Restaurierung des Hauses mit rosafarbenem Marmor, bronzener Eingangstür und aufwendigem Treppengeländer – und bekam eine Unesco- Auszeichnung für gelungene Renovierung. Die Granitfassade hatte unter der Luftverschmutzung gelitten, dreißig Arbeiter reinigten sie in zwei Monaten von Hand, nach einer Methode, die bei venezianischen Palästen angewandt wird.

In der Boutique „Younik“ im selben Haus stellt Chen Ping ihre Mode aus. Sie entwirft das Outfit für die erfolgreichen Frauen von Schanghai. Somit sind die meisten ihrer Kleidungsstücke schwarz, dunkelgrau oder anthrazit. Chen Ping ist 36 Jahre alt, wirkt jung, wie all die grazilen Menschen, die in dem Laden an den weißen Wänden lehnen oder am Kassentisch stehen wie Schilfgras an einem Bach. Chen Ping möchte die „Klarheit unserer alten Kultur wiederaufnehmen“. Die Kulturrevolution habe diese Verbindung unterbrochen, „wir hatten nur noch Einheitskittel“. Mit ihren Entwürfen orientiere sie sich an der Song-Dynastie. Wann war das noch gleich? Auf diese Frage hin kommt Bewegung in die schwarz gekleideten Gräsergleichen, eine rege Unterhaltung beginnt, die zu keinem Ergebnis führt. „Sehen Sie“, sagt Chen Ping, „wir wissen nicht einmal das mehr genau. Die Verbindung zu unserer Vergangenheit wurde zerschnitten.“

Seit zehn Jahren etablieren sich chinesische Modemarken. Einige Designer haben sich zusammengeschlossen zur Boutique Younik im „Bund 18“. Der Standort ist an Exklusivität kaum zu überbieten, im Erdgeschoss des Kolonialgebäudes sind Cartier und Ermenegildo Zegna eingezogen, auf der Dachterrasse trinken am Abend die Reichen und Schönen in der „Bar Rouge“ für acht Euro Mango Mojito mit Blick auf die Skyline von Pudong. Auch in den Häusern nebenan logiert, was über die Laufstege der Welt stöckelt, aber auch die taiwanische Edelschneiderei Shiatzy Chen und die Hongkonger Konkurrenz Shanghai Tang, zwei exklusive Modemarken im chinesischen Stil.

Der letzte Morgen in der Stadt. Sechs Uhr früh. Vom Hotelzimmer aus breitet sich der Bund in leichtem Schwung am Ufer des Huangpu aus. Fahles Dämmerlicht liegt über der Stadt. Als ich den Bund erreiche, glimmt die Sonne zwischen den himmelhohen Häusern von Pudong, auf der anderen Seite des Flusses. Einige Jogger treffen sich auf dem leeren Pflaster. Ein paar wundersame Menschen rennen rückwärts. Am Denkmal des Volkshelden reiht sich ein Dutzend Chinesinnen auf, übt zu zarter chinesischer Musik Tai Chi. Gekleidet in tiefrote Samtanzüge mit Kordelknöpfen. Die Sonne scheint in ihre Gewänder zu fließen. Sanfte Bewegungen. Ein alter Mann winkt mich zu sich. Ob ich Tai Chi mag? Ja, sage ich. Machen Sie mit, fordert er mich auf. Es ist ganz einfach. Das ist es vermutlich auch. Wenn man es sein Leben lang geübt hat, jeden Morgen. Ich lehne freundlich ab. Der alte Herr sagt: „Don’t be shy, my dear Madame.“

Ich gehe weiter den Bund entlang. Eine Handvoll Frauen, robuste Figuren in Jogginganzügen, stellt sich in Positur. In ihren Händen halten sie rote Fächer, die sie synchron in anmutigen Posen öffnen, über ihre Köpfe ziehen, mit angewinkelten Händen in die kühle Morgenluft strecken. Die Sonne gewinnt an Kraft, steigt auf zwischen Jin Mao Tower und dem World Financial Center, den gläsernen Wahrzeichen der Stadt. Am Bund leuchten die Kolonialbauten in sattem Morgengelb. Davor glühen die roten Fächer der Chinesinnen. Schanghais Gegenwart ist manchmal schwer zu ertragen. Baustellen, verschwindende Häuerblocks und Brücken, Lärm, Smog, Menschengedränge. Schanghais Vergangenheit scheint sich aufzulösen. Die Zukunft klingt für viele vielversprechend und macht anderen Angst. An einem Sonntagmorgen am Bund verschmelzen die Zeiten.

Verschlafen kommen die ersten Verkäufer auf den weiten Boulevard. Nun wird es bald voll. Anstrengend. Touristen aus der ganzen Welt, Chinesen aus dem ganzen Land, flanierende Einwohner Schanghais, manche wieder reich geworden auf dem Weltmarkt, und Kleinsthändler mit Papierdrachen und Jasmintee, mit fiependen, glitzerndem Krimskrams. Alle wollen teilhaben am Glücksversprechen der Stadt, am Ufer der Huangpu. „… und sie können keine andere Luft mehr atmen als die heiße, schwere Luft von Schanghai“, schrieb Vicky Baum. Die Frachtkähne tuten in tiefem Moll.