: Puppen schaden dem Schach
Großmeisterin Judit Polgar tritt bei den Mainzer Chess Classics gegen den Inder Viswanathan Anand an. Sie ist allerdings die einzige Frau, die mit den Männern aus der Weltspitze mithalten kann
aus Mainz HARTMUT METZ
In den 30er-Jahren fürchteten Schachspieler den „Vera Menchik Klub“ wie der Teufel das Weihwasser. Spötter hatten ihn gegründet und nahmen in diesen jedes männliche Mitglied auf, das gegen Vera Menchik verlor. Dem späteren niederländischen Weltmeister Max Euwe passierte gar zweimal das Malheur. Fortan wurde er hämisch als „Präsident“ des „Vera Menchik Klubs“ geführt. Der Inder Mir Sultan Khan soll sich nach einer Schlappe gegen die Engländerin aus Scham gar zwei Jahre lang nicht in seine Heimat zurückgetraut haben. Die siebenfache Frauen-Weltmeisterin galt als ein Phänomen. Nicht, weil Menchik bei den Weltmeisterschaften 78 ihrer 83 Partien gewann und nur eine verlor, vielmehr bot sie als erste Frau den Männern Paroli.
Nach dem frühen Tod Menchiks 1944 in London durch eine deutsche V-1-Rakete dauerte es fast ein halbes Jahrhundert, bis wieder eine Schachspielerin auftauchte, die die Männerwelt das Fürchten lehrte: Judit Polgar. Die Ungarin steht heute (bis Sonntag/täglich ab 18.30 und 20 Uhr) in der Mainzer Rheingoldhalle vor ihrer größten Herausforderung in einem Zweikampf. Bei den Chess Classic trifft die 27-Jährige in acht Schnellschach-Partien auf Viswanathan Anand. Weil Polgar die Damen-Weltrangliste, die sie seit einem Jahrzehnt souverän anführt, kaum interessiert und Frauen-Wettbewerbe generell meidet, bedeutet dies in männlichen Weltranglisten-Zahlen: Platz elf gegen Rang drei.
„Sie ist der leuchtende Stern im Frauenschach und dort eine Klasse für sich“, bekundet Anand Respekt. Der „Tiger von Madras“ rechnet deshalb mit einem „engen Match“. Polgar verspricht einen „großen Kampf gegen den Favoriten“. Ob der indische Sportler des Jahres im Falle einer Schlappe dem Beispiel seines Landsmanns Mir Sultan Khan folgen würde, ist noch ungeklärt. Experten halten ohnehin einen Kantersieg des überragenden „schnellen Brüters“ für wahrscheinlicher.
Kantersiege würde Judit Polgar bei den Frauen zweifellos ständig feiern. Nach der Babypause ihrer Schwester Susan, die ihren WM-Titel kampflos abgab, liegt die zweitbeste Großmeisterin, Antoaneta Stefanova (Bulgarien), bei den Männern auf Platz 609; Weltmeisterin Zhu Chen (China) ist 685. Das ist ein Unterschied, als würde die beste Sprinterin über 100 Meter ständig mit zehn Metern Vorsprung über die Ziellinie laufen. „Ich habe kein Problem mit Frauen, sondern nur mit dem Niveau ihres Spiels“, unterstreicht Polgar und betont, „die Vergleiche mit Männern stellen eine größere Herausforderung für mich dar“.
Die zahlreichen Chauvinisten beim königlichen Spiel schwanken noch zwischen drei Thesen, warum Frauen „nichts vom Schach verstehen“: 1. Sie können nicht logisch denken. 2. Sie können während einer Turnierpartie keine vier Stunden lang die Klappe halten. Am wahrscheinlichsten sei jedoch Theorie drei: Beides trifft zu. In Deutschland lässt sich die Malaise des schwachen Schach-Geschlechts indes an reinen Zahlen festmachen: Die Sportfischer haben mit 3,7 Prozent den niedrigsten Frauenanteil. In dieser Negativstatistik des Deutschen Sportbundes (DSB) folgt gleich dahinter der Deutsche Schachbund. Von den rund 93.000 Mitgliedern sind nur 5.546 weiblich. Keine 6 Prozent! Selbst Boxen (15,5 Prozent) und Gewichtheben (25 Prozent) bringen es auf einen zweieinhalb- bis vierfach so hohen Anteil.
Polgar sieht „das größte Problem in der Tradition und der Gesellschaft. Bei den Anfängern liegt der Frauenanteil in manchen Ländern bei fast 50 Prozent, später verschiebt sich dies aber zusehends.“ Die Klötzleschieber genießen zwar nirgendwo den Ruf aggressiver Kampfsportler, dass der Denksport aber durchaus psychische Härte erfordert, lässt sich an einer alten Untersuchung festmachen: Frauen, die in ihrer Kindheit mit Puppen spielten, bringen es im Schach selten weit. In Deutschland waren rund drei Viertel der Spitzenspielerinnen in ihrer Kindheit eher wie Jungs erzogen worden – und ohne Puppen aufgewachsen. Weil schon minimale Leistungen im Mädchenbereich reichen, um Titel zu hamstern, fordert die Weltranglistenelfte als Gegenmaßnahme „die Aufhebung der Geschlechtertrennung. Langfristig würde sich so das Niveau anpassen, was unserem Spiel gut täte.“
Bezeichnenderweise ist im Deutschen Schachbund der Posten einer Frauenreferentin vakant. Bei den deutschen Meisterschaften vor zwei Wochen ging die Siegerin nach neun Runden mit 1,5 Punkten Vorsprung durchs Ziel. Die Frau war früher ein Mann.