Die Chance scheint abgefahren

Bedarf und Initiatoren sind da, aber bis heute gibt es kein Stadtviertel für autofreies Wohnen in Berlin. Projekte wurden verzögert und behindert. Nur autoarme Siedlungen wurden realisiert

VON JULIANE GRINGER

Die Kinder ohne Angst auf der Straße spielen lassen, leben ohne Verkehrslärm und Abgase, Stille wie auf dem Land: Es könnte alles so schön sein. Ohne Autos in der Stadt. Doch autofreies Wohnen hat es alles andere als leicht in Berlin. Bis heute hat es kein Projekt wirklich bis zum Bau geschafft. Utopien sind verpufft.

Die Chancen des bisher größten Vorhabens, auf dem Gelände des ehemaligen Stadion der Weltjugend an der Chausseestraße ein autofreies Wohngebiet mit etwa 760 Wohnungen zu errichten, werden auch immer kleiner. Der Bundesnachrichtendienst soll dort bauen. Alternativstandorte für den BND – etwa das Gelände an der Heidestraße, das der Deutschen Bahn gehört – fielen durchs Raster. Das Vertrauensgremium des Bundestages sprach sich Anfang Juli mehrheitlich für den BND-Standort Chausseestraße aus.

„Städtebaulich wäre das ein Desaster“, sagt Markus Heller, freier Architekt und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft „Autofreies Stadtviertel an der Panke, Berlin-Mitte“. „Im Gespräch sind 10- bis 15-geschossige Gebäude, die über die umliegenden Häuser weit hinausragen würden. Und auch mit 3.000 bis 4.000 Mitarbeitern erreicht man wohl niemals so eine Infrastruktur wie mit einem autofreien Wohngebiet.“ Eine Infrastruktur, die sich fast automatisch einstellen würde. Denn für Händler wäre ein solches Stadtviertel sehr attraktiv: Ohne Auto kauft man in der Regel in der Nachbarschaft.

Zudem bietet des Grundstück ideale Bedingungen für autofreies Wohnen. „So ein Projekt braucht eine zentrale Lage in der Innenstadt, muss eine gewisse Mindestgröße haben und sehr günstig vom öffentlichen Personennahverkehr erschlossen sein“, zählt Heller auf. „Aber es muss Rückendeckung von Politik und Verwaltung bekommen.“ An der mangelte es im Bezirk Mitte nicht, auf Landesebene aber schon.

Die Idee, ohne Autolärm und -dreck zu leben, kam Anfang der 90er-Jahre nach Berlin. Der damalige Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) ließ ein Gutachten erstellen, das sechs Standorte als geeignet für autofreies Wohnen auswies: Gartenstadt Falkenberg, Tempelhofer Feld, Lichterfelde-Süd, Eldenaer Straße, Stralauer Halbinsel und Biesdorf-Süd. Die letzten vier Projekte konnten nicht durchgesetzt werden – sei es wegen schwieriger Eigentumsverhältnisse oder politischen Einschränkungen. Der damalige Staatssekretär der Senatsbauverwaltung, Ingo Schmitt (CDU), erließ 1997 die interne Anweisung, alle Bemühungen um autofreies Wohnen einzustellen.

Rainer Sommer, Anfang der 90er-Jahre Bürgerdeputierter der Grünen im bezirklichen Stadtentwicklungsausschuss, hat das Projekt „Eldenaer Straße“ nach Bremer Vorbild mit angekurbelt. „Berlin hat beim Thema autofreies Wohnen eindeutig eine große Entwicklungschance verpasst“, sagt er heute im Rückblick auf über zehn Jahre Verzögerungen und Ablehnungen von ambitionierten Projekten. „Die Verantwortlichen im Bau- und Finanzbereich sind die gleichen geblieben, allen voran Senatsbaudirektor Hans Stimmann. Oder die neuen Mitarbeiter haben die gleiche hemmende Denkweise übernommen.“

Momentan im Bau befindet sich „Lebens(t)raum Johannisthal“, ein autoreduziertes Projekt zwischen Spree und Teltowkanal. Autoreduziert oder auch „autoarm“ bedeutet, dass für zehn Wohnungen nur sieben Stellplätze gebaut werden statt wie üblich zehn bis 15. Zudem gibt es noch „optisch autofreie“ Viertel, bei denen die Pkws der Bewohner außerhalb geparkt werden oder in unterirdischen, groß angelegten und teuren Tiefgaragen – wie in der Steglitzer Woltmannweg-Siedlung.

Wirklich autofrei aber bedeutet, dass die Anwohner kein Auto haben und die Straßen im Viertel nur von Rettungswagen, Möbeltransportern oder in Sonderfällen befahren werden. Alternativen wie Fahrradstationen oder Car-Sharing werden dann verstärkt angeboten.

Zwei autofreie Viertel in Berlin sind nur noch auf dem Tempelhofer Feld sowie in der Gartenstadt Falkenberg geplant und teilweise im Bau. In Falkenberg, recht weit außerhalb des Zentrums, errichtet die „Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892“, die sich auch immer noch für das Viertel an der Chausseestraße als Investor interessiert, 50 autofreie Wohnungen in einem größeren Wohngebiet. 2005 oder 2006 soll der Bauabschnitt fertig gestellt werden. „Der Bedarf für diese Wohnform ist groß, wir hatten sehr viele Interessenten. Im innerstädtischen Bereich wäre sie sicher noch mehr gefragt“, sagt Hans-Jürgen Hermann vom Genossenschaftsvorstand.

Gernot Klemm, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der PDS-Fraktion, verweist auf die Koalitionsvereinbarung von Rot-Rot, die autofreies Wohnen in Berlin als Ziel markiert. „Die Suche nach einem Alternativstandort ist schwierig, aber sie geht weiter. Städte wie Hamburg oder München, in denen diese Wohnform schon praktiziert wird, zeigen doch, dass es funktioniert und dass es einen entsprechenden Bedarf gibt, auch in Berlin.“ Die PDS unterstützte eine Ansiedlung des BND an der Heidestraße.