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Archiv-Artikel

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Die Grünen machen in der Bundesregierung eine gute Figur, weil sie klare Konzepte vertreten. Das kann man von den Sozialdemokraten derzeit nicht gerade behaupten

Die SPD muss sich entscheiden, ob sie noch mit einem Projekt der sozialen Gerechtigkeit Wähler werben will

Die gegenwärtige Arbeitsteilung in der Bundesregierung scheint klar: Die Grünen kümmern sich um die angenehmen Themen wie Umwelt, Außenpolitik und gesunde Ernährung, während die SPD die „Drecksarbeit“ bei den Sozialreformen erledigen muss.

Stimmt das wirklich? Und: Wie ist es zu erklären, dass Jürgen Trittins Dosenpfand von den BürgerInnen mittlerweile akzeptiert wird. Oder dass sich Renate Künast zumindest den Respekt vieler Landwirte erarbeitet hat, obwohl sie für die grüne Agrarwende steht.

Bevor Renate Künast ihren Job angetreten hat, war es unter Bauern noch verbreiteter Konsens, dass man auf keinen Fall „Landschaftsgärtner“ werden wollte. Heute beginnt sich sogar der Bauernverbandspräsident Sonnleitner mit der Umstellung von Produktions- auf Flächenprämien anzufreunden, wie sie von EU-Kommissar Fischler mit tatkräftiger grüner Unterstützung vorangetrieben wurden.

Viele Bauern haben in den letzten Jahren deutliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, aber für sie zeichnet sich eine klare Perspektive ab: Auf der Basis einer staatlichen Grundfinanzierung, mit der ihr Beitrag zum Erhalt von Kulturlandschaften und zum Umweltschutz honoriert wird, werden sie in Zukunft wettbewerbsfähig gesündere Lebensmittel herstellen können. Die grüne Agrarwende ist, auch wenn die Umsetzung zeitintensiv und im Detail mühselig ist, von einem überzeugenden und zukunftsfähigen Leitbild getragen.

Diese Perspektive hat auch für die breite Öffentlichkeit Charme, obwohl sie weiter Haushaltsmittel in substanzieller Höhe beanspruchen wird. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die grüne Agrarwende die WTO-Verhandlungen in Zukunft erleichtern, mehr weltweite Gerechtigkeit schaffen und damit auch Industriearbeitsplätze in Deutschland sichern wird.

Wie steht es demgegenüber mit dem zentralen, von der SPD verantworteten Reformvorhaben, der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II? Bei allen Unterschieden lohnt ein Vergleich, vor allem mit Blick auf das Werben um öffentliche Akzeptanz und auf die handwerkliche Umsetzung.

Zunächst ist die Notwendigkeit der Reform nicht zu bestreiten. Die Leitidee ist attraktiv: die kosten- und bürokratieintensiven Verschiebebahnhöfe zwischen Arbeitslosen- und Sozialhilfe abschaffen, mehr Personal für die Jobvermittlung bereitstellen und durch eine aktivierende Sozialpolitik Missbräuche und die Verfestigung von Sozialhilfedynastien einschränken.

Warum bringt die Reform der Sozialdemokratie nicht ein Mehr an Vertrauen, sondern den Verlust von Wählerstimmen?

Die SPD hat den kapitalen Fehler gemacht, sich für die zentralistische, vom Bürokratiemoloch Arbeitsamt gesteuerte Reformvariante zu entscheiden. Bis hin zu den Fachleuten der Bundesagentur für Arbeit ist es dagegen weitgehend Konsens, dass die Kommunen die geeigneten Träger für die Erfassung und Abwicklung der Leistungsansprüche, teilweise aber auch für die Beratung sind. Sie verfügen über das Know-how der Sozialämter und haben in den letzten Jahren an vielen Orten innovative Modelle entwickelt, um Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen. Stattdessen beharrt Wirtschaftsminister Wolfgang Clement darauf, dass die Bundesagentur diese Aufgaben übernimmt.

Er hat sich so ein mehrfaches Problem eingehandelt. Die Bundesagentur für Arbeit ist strukturell überfordert, die Reform bis zum Jahresende vernünftig umzusetzen, und der unnötige Streit mit der Union hat viele wertvolle Monate der Vorbereitung der Umsetzung gekostet. In der Folge droht ein Debakel wie bei der Maut, und alle administrativen Ressourcen werden die nächsten zwei Jahre dermaßen angespannt sein, dass für das eigentliche Ziel der Reform, deutlich mehr Personen für die Vermittlung von Jobs an Langzeitarbeitslose, kaum Kapazitäten mehr übrig sein werden. Insofern wird die Reform zwar eines Tages mit Hängen und Würgen umgesetzt sein, nur die positive Leitidee des Reformansatzes droht auf dem Weg zum Ziel unterzugehen.

Nun hat die SPD bis zur Bundestagswahl nur noch eine Chance, wenn sie auf dem Gebiet ihrer ureigenen Kompetenz, der sozialen Gerechtigkeit, wieder Boden gutmachen will: die Einführung einer Bürgerversicherung.

Dabei sollte die SPD aus der bisherigen Erfahrung rot-grüner Regierungspraxis zunächst eines lernen: Die Reform braucht ein klares und populäres Leitbild. Und dieses kann nach Lage der Dinge nicht das der Kosteneinsparung oder der Senkung der Lohnnebenkosten sein. Mit der Bürgerversicherung sollte vielmehr soziale Gerechtigkeit wieder hergestellt werden.

Die unübersehbaren Tendenzen zur Herausbildung eines Zwei-Klassen-Gesundheitswesen, mit Privatpatienten auf der einen und Kassenpatienten auf der anderen Seite, die oft nicht mehr die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten, muss gestoppt und umgekehrt werden: Der Sozialstaat muss sicherstellen, dass jedermann die gleiche Chance hat, bei Erkrankungen ordentlich (nicht luxuriös) behandelt zu werden. Das schließt im Übrigen angemessene Zuzahlungen und die private Absicherung von Zusatzleistungen, wie etwa Zahnersatz, nicht aus.

Die grüne Agrarwende ist von einem überzeugenden und zukunftsfähigen Leitbild getragen

Bei der Konzeption der Bürgerversicherung sind einige wenige Prinzipien unbedingt zu beachten: Das Modell muss einfach und verständlich sein – die Riester-Rente setzt sich auch deswegen nicht durch, weil sie zu komplex konzipiert ist. Die Privilegien der Beamten müssen gekappt werden, wobei man im Gegenzug nicht umhinkommen wird, die Honorierung der Ärzte bei der Behandlung von „Kassenpatienten“ zu erhöhen. Bei der notwendigen Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen braucht es Augenmaß; die Verbreiterung der Einnahmebasis ist mit hohen Freigrenzen auszugestalten.

Schließlich muss der Wettbewerb zwischen Kassen, Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und Pharmaindustrie gefördert werden. Auf dieser Basis sollte es möglich sein, ein zukunfts- und in Deutschland mehrheitsfähiges Modell von solidarischer Krankenversicherung zu konzipieren, das nicht bei jeder Haushaltsberatung am Tropf politischer Mehrheiten hängt. Dies wäre bei dem Modell der Kopfpauschale, das auf Haushaltszuschüsse angewiesen sein wird, der Fall. Die Niederländer machen es uns im Übrigen gerade vor, dass eine Bürgerversicherung durchgesetzt werden kann.

Wichtig ist, dass Rot-Grün sich rasch auf die Leitgedanken dieser Reform einigt und sie offensiv zur Diskussion stellt, anstatt sich in technokratischen Detaildiskussionen und Widersprüchen zu verzetteln. Und die SPD wird sich entscheiden müssen, ob sie noch willens und bereit ist, mit einem Projekt der sozialen Gerechtigkeit um Mehrheiten zu werben, oder ob sie sich de facto schon mit der künftigen Oppositionsrolle abgefunden hat.

ROGER PELTZER