Die Stunde der Wahrheit

Der Machtkampf in Gaza schwelt schon lange. Nun, da Israel bald abzieht, verlangen junge Kader das Honorar für ihren Einsatz bei der Intifada

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Polizeistationen werden niedergebrannt, Sicherheitschefs ein- und dann wieder abgesetzt, Ausländer werden entführt, um kurz darauf wieder freigelassen zu werden. Kurzum: Im palästinensischen Gaza-Streifen herrscht das blanke Chaos.

Unmittelbarer Auslöser für die Zuspitzung der Lage sind die israelischen Pläne, sich demnächst aus dem Gaza-Streifen zurückzuziehen. In Erwartung des Neuen, was stattdessen kommen soll, haben sich viele der seit Jahren angestauten Probleme in den Palästinensergebieten verdichtet.

Da ist zum einen ein palästinensisches Grundgefühl: Der Ärger über die Korruption von Teilen der eigenen Führung, die seit Jahren staatsmännisch in EU-finanzierten Limousinen vorfährt, ohne das politische Schicksal der Palästinenser tatsächlich zu kontrollieren oder wenigstens die Lebensbedingungen verbessern zu können. Obwohl jährlich um die 725 Millionen Euro an Entwicklungshilfe fließen, ist die Armut der 3,5 Millionen Bewohner der Palästinensergebiete nur größer geworden. Dazu gesellt sich ein seit Jahren schwelender Machtkampf im nationalistischen Fatah-Lager zwischen der neuen Intifada-Generation und der alten Bürokratengarde aus Zeiten des tunesischen Exils der PLO. Die Jahre der Intifada haben jüngere Fatah-Kader gestärkt, ohne dass sie politisch oder auch nur innerhalb der Führung der Sicherheitskräfte angemessen repräsentiert sind. Mit einem israelischen Rückzug aus dem Gaza-Streifen schlägt nun die Stunde der Wahrheit. Die Intifada wäre damit beendet – der Kampf um künftige Posten entbrennt über diese Aussicht vollends.

Die neue Garde versucht nun vor allem durch ihren Ruf nach Reformen des Sicherheitsapparats und mit dem Fingerzeig auf die alte Garde in Sachen Korruption zu punkten. Wie beispielsweise der 43-jährige Muhammad Dahlan, bis vor knapp einem Jahr unter Exministerpräsident Mahmud Abbas Sicherheitsminister. Er hat Arafat wiederholt vorgeworfen, die alte, korrupte Garde nicht auszuwechseln. Dahlans Rezept ist einfach und effektiv: Er ruft zu Reformen im Sicherheitsapparat auf und verspricht der neuen Garde dabei gleich Jobs bei den reformierten Institutionen, um sich deren Unterstützung zu sichern.

Ob neue oder alte Garde, beide zweifeln im Moment Arafat als nationales Symbol nicht an. Er genießt immer noch das Vertauen der meisten Palästinenser als jemand, der ihre nationalen Interessen nicht verscherbeln würde. Doch was die täglichen Regierungsgeschäfte angeht, hat sich Arafat nach der Meinung vieler Palästinenser als Katastrophe erwiesen. Die Forderung, die Sicherheitskräfte dem direkten Griff des Palästinenserchefs zu entreißen, ist die unmittelbare Konsequenz daraus.

Diese Forderung der jungen Fatah-Rebellen deckt sich übrigens auch mit den Interessen Ägyptens, dem unmittelbaren Nachbarn des Gaza-Streifen: Totales Chaos nach dem Rückzug der israelischen Truppen aus Gaza gilt in Kairo als das Albtraumszenario. Auch die Regierung Mubarak hofft auf reformierte palästinensische Sicherheitskräfte außerhalb der direkten Kontrolle Arafats, am besten in den Händen des palästinensischen Ministerpräsidenten Ahmad Kurei, der trotz seiner Rücktrittsambitionen weiter als Vermittler zwischen Gaza-Rebellen und Arafat auftritt und auf eine gestärkte eigene Position hofft.

Wie immer die palästinensischen Machtkämpfe am Ende ausgehen werden, zumindest kurzfristig lassen sich schon jetzt zwei, wenngleich sehr unterschiedliche Gewinner ausmachen. Da ist einmal die Regierung des israelischen Hardliners Ariel Scharon, die weiter argumentieren kann, dass es unter den Palästinensern keinen Gesprächspartner für Verhandlungen gibt. Ein ideales Klima für einseitige Maßnahmen wie den Bau der Sicherheitsmauer.

Aber auch die größten palästinensischen Konkurrenten des völlig zerstrittenen nationalistischen Lagers rund um Fatah können in aller Ruhe von der Seitenlinie zusehen – wie etwa die Islamisten von der Hamas. Hamas hat derzeit kein Interesse, die Macht im Gaza-Streifen anzutreten. Denn würden sie die Führung übernehmen, würde sich für die Islamisten schnell die Frage stellen, ob sie pragmatisch mit Israel in Verhandlungen treten sollen. Da ist es im Moment wesentlich günstiger, als saubere Alternative zu Korruption und bitteren Machtkämpfen der Nationalisten weiterhin still und leise als stärkste Opposition vor sich hin zu wachsen.