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Archiv-Artikel

„Schweizer Zähne nicht besser als deutsche“

Privatisierung von Zahnbehandlungen führt nicht zu gesünderen Gebissen, sagt Zahnmediziner Hans Jörg Staehle

taz: Herr Staehle, es heißt, die Schweizer haben bessere Zähne, weil sie für die Behandlung selbst bezahlen müssen. Stimmt das?

Hans Jörg Staehle: Nein. Der Zustand der Mundgesundheit in der Schweiz ist nicht besser als in Deutschland – in praktisch keiner Altersgruppe. Es gibt auch keine Belege dafür, dass durch finanziellen Druck das Mundgesundheitsverhalten verbessert wird. Nach den verfügbaren Daten unterscheiden sich die Schweizer etwa in Bezug auf Ernährung, Rauchen und Zähneputzen kaum von den Deutschen.

Warum wird dann in der hiesigen Debatte um die Gesundheitsreform behauptet, Privatisierung führe zu besserer Zahnpflege und im Effekt zu besseren Zähnen?

Hier werden Tatsachen verdreht. Die sozioökonomische Situation der Bevölkerung ist in der Schweiz besser als in Deutschland. Die Prophylaxe, zum Beispiel durch Fluorid im Speisesalz und den Ausbau der Schulzahnpflege, wurde eher als in Deutschland umgesetzt. Allein deshalb müssten die Schweizer eigentlich bessere Zähne als die Deutschen haben. Offenbar reichen diese Pluspunkte aber nicht aus, um die nachteiligen Effekte der Privatisierung, also den teuren Zugang zu zahnärztlichen Leistungen, zu kompensieren.

Was wäre die richtige Lösung?

Wenn man Prävention auf hohem Niveau gleichzeitig mit einem niedrigschwelligen Zugang zu sinnvollen zahnärztlichen Leistungen verbindet, könnte Deutschland in einigen Jahren sogar besser dastehen als die Schweiz.

Aber was ist mit der These, eine Erhöhung der Eigenverantwortung verbessere das Gebiss quasi automatisch?

Der Begriff der Eigenverantwortung ist zu reiner politischer Propaganda verkommen. Man muss viel deutlicher zwischen medizinischer und ökonomischer Eigenverantwortung unterscheiden. Aus medizinischer Sicht ist mit Förderung von Eigenverantwortung gemeint, die Voraussetzungen für Bildung, soziale Mindestsicherung, gesundheitliche Aufklärung, breitenwirksame Prophylaxe und leicht und günstig zu erhaltende Präventions-Leistungen zu verbessern. Zur Zeit wird mit dem Begriff jedoch bloß die Ökonomisierung der Medizin betrieben.

Wie das?

Nach außen hin behauptet man, durch ökonomische Eigenverantwortung, also durch finanziellen Druck, würde die medizinische Eigenverantwortung und dadurch das aktive Mundgesundheitsverhalten verbessert. Dies führe auch zu einer Kostenreduktion. Man gibt das Signal aus, die Bevölkerung müsse nur ein paar mehr Zahnbürsten kaufen, und alles werde billiger. Insgeheim wird aber natürlich nicht erwartet, dass weniger Geld in die Zahnmedizin fließt. Das Gegenteil ist der Fall, man hofft durch mehr „Selbstzahlerleistungen“ auf neue Wachstumsimpulse für den Gesundheitsmarkt.

Mit welchen Folgen?

Wer wenig Geld hat, wird weniger attraktive Leistungen bekommen. Um allerdings das Gesamtvolumen zahnärztlicher Leistungen nicht zu senken, sondern sogar zu erhöhen, wird bei den zahlungsfähigen „Kunden“ der Anteil unnötiger und fragwürdiger Leistungen vermutlich erhöht: Zum Beispiel Keramikinlays selbst bei geringfügigen Veränderungen, die man durch direkte Restaurationen schonender angehen könnte; oder neuerdings die esoterisch motivierten Messungen von „Zahnenergien“, wobei sich schon mancher zu Behandlungen überreden lassen hat, die für das Gebiss sehr schädlich waren. Die Gefahr eines Nebeneinanders von zahnmedizinischer Unter-, Über- und Fehlversorgung wird durch eine Privatisierung nicht kleiner, sondern eher größer.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN