„Der Zug ist abgefahren“

Wir werden uns auf extreme Wetterlagen einstellen müssen, warnen die Klimaforscher. Die Erhöhung der globalen Temperatur wird in Zukunft immer häufiger für Ausschläge bei der Witterung sorgen. Eindeutige Warnzeichen kommen aus den Alpen

von WOLFGANG LÖHR

„Dieses Jahr wird auf jeden Fall einen Platz in den Annalen der Wettergeschichte bekommen“, ist sich Michael Knobelsdorf von Deutschen Wetterdienst (DWD) in Offenbach am Main sicher. Gleich haufenweise purzelten in den letzten Wochen in Europa die Rekorde. Hitzerekord in Frankreich und Italien. In Großbritannien kletterte das Thermometer erstmals seit Beginn der Registrierung von Tagestemperaturen im Jahre 1659 auf über 100 Grad Fahrenheit: exakt 37,9 Grad Celsius wurden am Londoner Flughafen Heathrow gemessen. In Deutschland registrierten gleich zwei Messstationen einen neuen Spitzenwert. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) und die Meteodata GmbH von Jörg Kachelmann streiten jetzt nur noch darum, wem diese Ehre zukommt und ob der neue Spitzenwert nun 40,8 oder 40,2 Grad Celcius beträgt.

Doch trotz der Rekordwerte und der lang anhaltenden Gluthitze: Bei der Frage, ob dieser besondere Sommer eine Folge des globalen Klimawandels sei, sind fast alle Experten zurückhaltend und vorsichtig.

„In Bezug auf die Klimageschichte ist es wahrscheinlich nur ein kleiner Fußabdruck“, meint Knobelsdorf. „Wir werden von einem Extrem ins andere geschickt“, erläutert Knobelsdorf, „letztes Jahr hatten wir in vielen Teilen Deutschlands Land unter.“ Nicht die heftigen Ausschläge des Wetters geben Anlass zu Sorge, sondern dass die Extreme in immer engeren Abständen kommen.

„Seien es nun Stürme, Starkniederschläge oder die große Hitze“, so Knobelsdorf, diese Wetterlagen seien in den letzten hundert Jahren immer häufiger aufgetreten. Ursache dafür sei „unbestritten“ der globale Temperaturanstieg, ist sich Knobelsdorf sicher. „Wenn das in dem Tempo so weitergeht, kann man sich ja ausmalen,was dann passiert.“

„Man kann nie aus einem einzelnen Sommer auf eine Klimaveränderung schließen“, sagt auch der Professor für Meteorologie an der Kieler Universität Mojib Latif. Man müsse immer die langfristige Entwicklung betrachten. Und da sind die Anzeichen eindeutig: „Die Temperatur auf der Nordhalbkugel war seit tausend Jahren nicht mehr so hoch wie heute“, erläutert der international renommierte Klimaforscher, und „das letzte Jahrzehnt war das wärmste.“ Für Latif ist deshalb der Klimawandel bereits im vollen Gange. Zwar geht er nicht so weit wie die Bild-Zeitung, die schon den meteorologischen Äquator um 20 Breitengrade nach Norden verschoben sieht. „Das ist Quatsch“, so Latif. „Der thermische Äquator, also dort, wo die höchsten Temperaturen gemessen werden, ist dieses Jahr vielleicht um 2 Grad mehr nach Norden gewandert, aber nicht um 20 Grad, wie dort berichtet wurde.“

Weitaus eindeutigere Beweise für den globalen Klimawandel kommen aus den Alpen. Dort ist in den letzten hundert Jahren ein dramatischer Rückgang der Gletscher registriert worden. Von den 120 Gletschern in der Schweiz waren es zu letzt nur noch 6 bis 7, die weiter vorstießen, berichtete gegenüber der Presse der Gletscherforscher und Delegierte in der Glaziologischen Kommission der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften, Daniel Vonder Mühll. Viele kleine Gletscher seien sogar ganz verschwunden.

„Die Gletscher spiegeln sehr gut die langfristige Klimaentwicklung wieder“, erläutert Martin Hölzle, Glaziologe am Geografischen Institut der Universität Zürich. Generell ist die Größe eines Gletschers von zwei Faktoren abhängig: der Temperatur und den Niederschlägen. Die Gletscher hätten somit die Eigenschaft, verschiedene Signale zu liefern. „Die Massenbilanz, also die jährliche Zunahme oder Abnahme der Eismenge, spiegelt das Wetter wider.“ Die Längenentwicklung des Gletschers hingegen hänge vor allem vom Klima ab, berichtet Hölzle, der auch an dem dreijährigen Schweizer Forschungsprojekt „Permafrost Monitoring“ beteiligt ist. Vor allem die großen Gletscher reagierten bei der Längenentwicklung verzögert, sie bräuchten mehrere Jahre eine positive Massenbilanz, „bis die Zunge unten merkt, dass sie vorstoßen muss“.

„Der größte Gletscher in den Alpen, der Große Aletschgletscher mit einer Länge von ungefähr 23 Kilometern, ist seit 1850 kontinuierlich zurückgegangen“, berichtet Hölzle, „seit Beginn der Gletscherbobachtungen vor 150 Jahren ist er nie vorgestoßen.“ Das sei die Folge der Klimaentwicklung über den Zeitraum eines Jahrhunderts.

Die mittleren Gletscher, die nur ein paar Kilometer lang sind, reagierten viel schneller. „Diese Gletscher sind zum Beispiel in den 20er-Jahren, aber auch in den 70ern und 80ern vorgestoßen“, berichtet Hölzle. Sie geben die Informationen über die Schwankungen im Jahrzehntebereich wieder.“ Die kleinen Gletscher, zum Teil nur Eisflecken von ein paar hundert Metern, reagieren noch schneller. Sie spiegeln nur den Witterungsverlauf eines Jahres wieder.

„In den Alpen“, so fügt Hölzle noch hinzu, „ist der ausschlaggebende Faktor für die Gletschergröße die Temperatur.“ Der Rückgang der großen Gletscher ist somit auch klar auf den Temperaturanstieg zurückzuführen und nicht auf eine Verminderung des Schneefalls.

Nicht ganz so eindeutig sind die Schlussfolgerungen, die sich aus der Veränderung der Permafrostgebiete, also der Regionen, in denen ständig eine Bodentemperatur unter 0 Grad Celsius herrscht, ergeben. Die Permafrostgrenze ist, bedingt durch den heißen Sommer in diesem Jahr, beträchtlich nach oben geschoben worden. Für Aufsehen sorgte Mitte Juni der Absturz von Felsen und Geröll in 3.400 Meter Höhe am Matterhorn. Erstmals musste die Bergregion für Kletterer gesperrt werden.

Auf die Permafrostgrenze wirken zahlreiche Faktoren ein, berichtet Hölzle. So ist zum Beispiel die Frage, ab wann eine Schneedecke vorhanden ist. Kommt sie früh, schützt sie den Boden vor die Kälte. Liegt sie im Frühajhr hingegen längere Zeit, verhindert sie die Erwärmung des Bodens. Auch die Lage, ob am Südhang oder am Nordhang, hat einen großen Einfluss auf die Bodentemperaturen. Es sei daher schwierig, so Hölzle, eindeutige Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Aber die Aussagen aus der Gletscherforschung sind eigentlich schon eindeutig genug.

In den nächsten fünfzig Jahren werde sich dieser Trend fortsetzen, warnt der Kieler Klimaforscher Latif. Zwar werde es nicht jedes Jahr neue Rekordwerte geben, aber die globale Temperatur werde noch weiter ansteigen. Das Klima reagiere nur sehr träge, so dass für die nächsten Jahrzehnte „buchstäblich der Zug bereits abgefahren“ sei.