Alles andere als ein Bärendienst

Die Jury holte das Beste aus einem schwachen Jahrgang heraus: Den faden Wettbewerb der 59. Internationalen Filmfestspiele Berlin beschlossen am Ende glückliche Entscheidungen. Die Perlen des Festivals fanden sich andernorts, doch sie fanden sich

Zu viele Filme sind Arthouse-Kino, mal behäbig, mal überkonstruiert Was ist mit der so oft beschworenen politischen Qualität des Festivals?

VON CRISTINA NORD

Eine alte Frau liegt auf dem Sterbebett. Langes graues Haar rahmt ihr faltiges Gesicht. Auf Quechua singt sie ein Lied. Es handelt davon, wie sie vergewaltigt wurde. Ihren Mann brachten die Angreifer vor ihren Augen um und zwangen sie, seinen Penis zu essen. Sie war schwanger, das Kind sah duch den Muttermund hindurch die Vergewaltigung mit an. Die Einstellung dauert eine Weile, die Kamera hält still, der Gesang bleibt eher ruhig, ein Klagelied zwar, aber eines, aus dem die Emotionen so weit gewichen sind, dass die Reglosigkeit der alten Frau und die harschen Inhalte des Liedes einen merkwürdigen Gegensatz bilden. Nach zwei, drei Minuten beugt sich von links eine junge Frau ins Bild, die Tochter, die jetzt um die 20 sein mag. Ihr dichtes schwarzes Haar fällt wie ein Vorhang vor die Kamera.

Mit dieser Szene beginnt „La teta asustada“ („Milk of Sorrow“), der Wettbewerbsbeitrag der peruanischen Regisseurin Claudia Llosa, der am Samstagabend den Goldenen Bären erhielt. Wörtlich übersetzt bedeutet der Titel „Die verängstigte Brust“. Aus dieser Brust trank die Tochter, als sie ein Säugling war, und nun trägt sie, obwohl auf den Namen Fausta, die Glückliche, getauft das Leid der Mutter in sich. Dieses Leid hat die Gegenwart fest im Griff, auch wenn sich die Gräuel vor langer Zeit und an einem weit entfernten Ort zutrugen. Damit ihr nicht zustößt, was der Mutter widerfuhr, hat sich Fausta (Magaly Solier) eine Kartoffel in die Vagina gesteckt. Die Kartoffel treibt Keime, die Fausta manchmal abschneidet. Sie braucht die Kartoffel, um ihre Ängste im Zaum zu halten. Dafür nimmt sie in Kauf, dass die Keime ihren Unterleib verletzen. Sie vergewaltigt sich selbst, bevor es ein anderer tut.

„La teta asustada“ wirkt ein wenig kalkuliert, wie der Film alle Zutaten für erfolgreiches, preiswürdiges, international koproduziertes Weltkino aufweist: Da gibt es die Erinnerung an einen vergangenen Krieg und die nicht vollständig vergangene Unterdrückung, es gibt staubig-exotische Hügellandschaften an den Rändern Limas, viele Versatzstücke indigener Kultur, Sagen und Lieder, wuchernde Traumata, dazu eine leichte Dosis magischen Realismus. Doch selbst wenn man Llosa Kalkül unterstellen wollte, es bleiben zahlreiche starke Szenen, und vor allem bleibt die Sache mit der Kartoffel, die ein so aberwitziges wie treffendes Bild abgibt für die Bewältigungsstrategien, die einer Traumatisierung folgen.

Man will es Tilda Swinton und den übrigen Mitgliedern der Jury also nicht verdenken, dass sie Llosas Film mit dem wichtigsten Preis versahen. Überhaupt gelang es dieser Jury, das Beste aus einem schwachen Jahrgang herauszuholen. Dass Maren Ades Wettbewerbsbeitrag „Alle Anderen“ gleich zwei Preise erhielt – den Großen Preis der Jury (ex aequo mit Adrián Biniez’ „Gigante“) und einen Silbernen Bären für die Hauptdarstellerin Birgit Minichmayr –, ist besonders erfreulich. Die Berliner Regisseurin ist erst 32 Jahre alt, „Alle Anderen“ ihr zweiter langer Film nach „Der Wald vor lauter Bäumen“. Es ist eine sorgfältige Studie eines jungen Paars in der Krise. Minichmayr spielt die junge Frau, Gitti, die selbstbewusst auftritt, während ihr Freund Chris (Lars Eidinger) eher zurückhaltend agiert. Die beiden machen Urlaub auf Sardinien, im Haus von Chris’ Eltern. Ade hat einen genauen Blick dafür, wie Macht und Liebe, Geschlechterrollen, Zweisamkeit und soziale Einbindung zusammenwirken. So gewinnt „Alle Anderen“, obwohl er den Raum des Privaten nicht verlässt, eine gesellschaftliche Dimension, die viel weiter trägt als in den vielen Filmen, die sich einem gesellschaftlich relevanten Sujet verschreiben.

Die glücklichen Entscheidungen der Jury können nicht darüber hinwegtrösten, dass die 59. Berlinale mit ihrem Wettbewerbsprogramm von 18 Filmen eine schlechte Figur machte. Das Auswahlgremium bevorzugte offenbar ein Kino des Dazwischen – weder Blockbuster noch Experiment, weder die richtig opulente Produktion noch die kleine, die nach neuen Formen sucht. Christoph Schlingensief, Mitglied der Jury, brachte das Problem auf den Punkt, als er vor wenigen Tagen in einem Interview mit der FAZ beklagte, es gebe zu viele „kausale“ und zu wenig „akausale“ Filme im Programm. Zu viele Filme stellen die Erzählung in den Mittelpunkt und vergessen darüber, dass sie in einem Bildmedium agieren. Zu viele Filme sind Arthouse-Kino, mal behäbig wie Andrzej Wajdas „Tatarak“, mal überkonstruiert wie Rachid Boucharebs „London River“, mal pseudoarchaisch wie „Katalin Varga“ von Peter Strickland, mal pseudosurrealistisch wie François Ozons „Ricky“. Da hilft auch die Pseudo-Screwball-Comedy wie „My One and Only“ von Richard Loncraine nicht weiter.

Die neuen Filme von Lars von Trier und Quentin Tarantino, das wurde letzte Woche bekannt, werden im Mai in Cannes Premiere feiern. Gus Van Sants jüngste Arbeit, das Biopic „Milk“ über den schwulen kalifornischen Kommunalpolitiker Harvey Milk, wäre ein wunderbarer Kandidat für den Wettbewerb gewesen, auch wenn es vergleichsweise konventionell geraten ist. Doch „Milk“ ist in einigen Ländern schon regulär angelaufen, deshalb kam der Film nur für eine Sondervorführung im Panorama in Frage. Dass die Berlinale nicht die Macht hat, in einem solchen Fall auf eine Verzögerung des Starttermins zu drängen, muss man ihr nicht vorwerfen. Zu nervös sind Produzenten, Weltvertriebe und lokale Verleiher, als dass sie einen fertigen Film lange unter Verschluss halten wollten. Die Finanzkrise verstärkt diese Nervosität noch. Traurig ist es trotzdem, und es bekräftigt die Hierarchie unter den Festivals. Cannes steht unangefochten an erster Stelle, Venedig lässt ein munteres Durcheinander von Spektakel und Kunst zu, für Berlin bleibt die Langeweile des gepflegten Arthouse-Kinos. Und was ist mit der von Dieter Kosslick so oft beschworenen politischen Qualität des Festivals? Man glaubt nicht daran, wenn man in der Lounge des Cinemaxx-Theaters neben einem ärmlich gekleideten Mann mit struppigem Haar und grauem Bart sitzt. Der Mann spricht mit sich selbst, er hält eine Rede an die Fürsten von Freiburg. Er ist nicht sehr laut und nicht sehr leise. Es dauert keine fünf Minuten, bis sich die Sicherheitsmänner des Filmtheaters ihn bitten, sie nach draußen zu begleiten.

Wer etwas sehen möchte, das einen mit den Sinnen denken lässt, musste die Augen wandern lassen. Stark war nämlich so einiges auf dieser Berlinale: US-amerikanische Independent-Produktionen wie „The Exploding Girl“ von Bradley Rust Gray und „Beeswax“ von Andrew Bujalski im Forum oder die Vielzahl an dokumentarisch-essayistischen Filmen – zum Beispiel Thomas Heises „Material“ mit Bildern aus der untergehenden DDR, Yoav Shamirs „Defamation“, eine Abhandlung über Antisemitismus, oder Lucien Castaing-Taylors „Sweetgrass“, eine hinreißende Dokumentation über Schafe und Schafhirten in den Bergen Montanas. Im Panorama erprobt „The Yes Men Fix the World“ ein munteres Crossover aus Agitation und Aktivismus. Die Filmemacher Mike Bonanno, Andy Bichlbaum und Kurt Engfehr mögen bei Michael Moore in die Schule gegangen sein, ihr Film aber fällt viel vergnüglicher und weniger rechthaberisch aus als Moores Filme. Und der Blick zurück traf immer wieder auf Erstaunliches – etwa auf „Winter adé“, Helke Misselwitz’ Dokumentation aus dem Jahr 1988. Die Regisseurin lässt Frauen von sich selbst erzählen, von ihrer Arbeit, ihren Familien, ihren Sehnsüchten, Ängsten und Wünschen. Oft sitzen die Gesprächspartnerinnen in einem Zug, oft nimmt Misselwitz Schienen ins Bild, ihr Film ist unterwegs, beweglich, wie eine Antithese zu den vielen Häusern, die das deutsche Kino zurzeit bevölkern. Am Anfang von „Winter adé“ sieht man, wie eine handbetriebene Schranke herabgelassen wird. Misselwitz nähert sich dem Mann an der Schranke, er hat viele Tätowierungen auf den Armen. Die Regisseurin fragt aus dem Off: „Hast du auch auf der Brust Tätowierungen?“ – „Klar“, entgegnet der Mann, „und auf dem Rücken auch.“ Misselwitz fragt: „Ziehst du dein Hemd aus?“ Der Mann zögert kurz, lacht, und schon steht er mit nacktem Oberkörper vor der Kamera. Überall sind Tätowierungen, Bilder von Frauen, wie in einer Vorwegnahme der Bilder, die der Film finden wird.