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Archiv-Artikel

Auf dem Weg zur Zweiklassenmedizin

Mit einer Reform will Frankreichs Regierung das Milliardendefizit der gesetzlichen Kassen ausgleichen. Ärzte werden stärker kontrolliert, Patienten müssen mehr für Praxisbesuche zahlen. Profitieren werden die Privatversicherer

PARIS taz ■ Offiziell heißt das Paket „Gesundheitsreform“. Doch an der desolaten Situation des französischen Gesundheitssystems, aufgrund deren vor einem Jahr 15.000 meist alte Menschen den „Hitzetod“ gestorben sind, wird das Gesetz, das die Abgeordneten in Paris nach einer 170 Stunden langen Debatte am Dienstagabend angenommen haben, wenig ändern.

Der notorische Personalmangel und die Bettenstreichungen in den Krankenhäusern sind nicht Gegenstand das Gesetzes. Es geht darin um ein buchhalterisches Problem, genauer: um das Defizit der gesetzlichen Krankenkasse, das am Ende dieses Jahres rund 13 Milliarden Euro betragen wird. Um dieses Loch zu füllen, soll die Kontrolle von PatientInnen und ÄrtztInnen verstärkt werden, die Eigenbeteiligung der Kranken an den Behandlungsgebühren steigen und die Hürde vor jedem Praxisbesuch erhöht werden.

„Wir waren mutig und effizient“, lobte sich Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy am Ende der Debatte. Vorausgegangen waren 8.500 Änderungsanträge zu seinem Entwurf, von denen sich nur wenige durchsetzen konnten. Dann stimmte die komplette Opposition sowie die Hälfte der Abgeordneten der rechtsliberalen kleinen Regierungspartei UDF gegen das Gesetz. Die zweite Hälfte der UDF-Abgeordneten enthielt sich. Die Präsidentenpartei UMP stimmte ganz allein mit ihren 358 Abgeordneten für die Reform, die noch diese Woche in den Senat geht. Anschließend wird sie in zweiter Lesung abgesegnet.

Ab Januar müssen PatientInnen bei jedem Praxisbesuch 1 Euro selbst bezahlen. Nur Schwangere, Kinder unter 16 und sozial sehr Bedürftige sind davon ausgenommen. Selbst die Opfer von Arbeitsunfällen müssen diese Gebühr entrichten. Auch die Eigenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten wird erhöht. Zusätzlich muss sich jeder Patient einen festen behandelnden Arzt bzw. eine Ärztin suchen, wofür sowohl Allgemeinmediziner als auch Fachärzte in Frage kommen.

Wer sich nicht an diese Regeln hält, wird mit Kürzung der Erstattung bestraft. Die Haupteinsparungen erwartet der Gesundheitsminister von einer elektronisch lesbaren „Patientendatei“, auf der sämtliche medizinischen Informationen zentralisiert werden. Die Datei soll mehrfache Untersuchungen und Behandlungen verhindern. „Die totale Datensicherheit“, so der Minister, „ist garantiert.“ Weitere Ersparnisse erwartet er sich von Kontrollen von ÄrztInnen, die „zu viel krankschreiben“ und von der Hinzufügung eines Fotos auf der elektronisch lesbaren „carte vitale“. Von dergleichen Missbrauch ist erst seit Beginn der aktuellen Debatte die Rede.

KritikerInnen stellen fest, dass das 1944 eingeführte Prinzip der Solidarität mit dem Gesetz weiter ausgehölt wird. „Statt wie bisher: Jeder zahlt nach seinem Einkommen und wird nach seinem medizinischen Bedarf behandelt“, erklärt die Gewerkschaft FSU, „gilt künftig das Prinzip ‚Zweiklassenmedizin‘.“

OppositionspolitikerInnen kritisieren, dass der Gesundheitsminister „den Wolf in den Schafstall“ geholt habe. Mit dem „Wolf“ sind die privaten Krankenkassen gemeint. Sie werden künftig – Unternehmerverband Medef und damit die Versicherer inklusive – in den Gremien vertreten sein, die über Fragen der Gesundheitspolitik entscheiden: von den Medikamentengebühren über die Arzttarife bis zur Höhe der Erstattungsbeträge der gesetzlichen Kasse.

Schon jetzt haben FranzösInnen, die sich das leisten können, eine private Zusatzversicherung für die Differenzbeträge zwischen dem von der Kasse erstatteten Betrag und den Gesamtkosten. Künftig können die privaten Versicherer in den Gremien mitentscheiden, die Kassenerstattungen weiter zu senken.

Ob die Reform bis zum Jahr 2007 die von Gesundheitsminister Douste-Blazy erhofften 15 Milliarden Euro bringt, ist unsicher. Fest steht, dass den privaten Krankenversicherungen ein Milliardengeschäft winkt.

DOROTHEA HAHN