: Die Fliege. Ein Tagebuch
Unter mysteriösen Umständen verschwindet die Münchner Journalistin Helen Burdik
21. Juli. Bei meinen Recherchen für eine Reportage über die Gentechnologie gestern Heiner Wernigehage kennen gelernt. Mit seinen 19 Jahren ist er einer der jüngsten Infogenetiker. Er scheint alles andere als ein forscher Forscher zu sein – als ich ihm beim Gespräch zuzwinkerte, wurde er rot und stammelte wirres Zeug.
26. Juli. Heute Interview. Sein Appartement gleicht eher einem Labor als einem Zuhause. Nach dem Interview zeigte er mir sein Allerheiligstes: zwei mannshohe Boxen, die aussehen wie intergalaktische Telefonzellen. Er erklärte mir, das seien „Teleportationszellen“, und er könne Gegenstände von der einen in die andere übertragen. Ich schaute ihn wohl ziemlich ungläubig an, denn er machte es mir gleich mit einem alten Socken vor. Und tatsächlich, es funktioniert! Kam mir vor wie in einem Science-Fiction-Film. W. meint, seine Erfindung werde die Welt verändern, aber ich frage mich, ob man um seine Socken so viel Wind machen sollte.
30. Juli. Für Heiner ist alles nur Information. „Zum Beispiel das Steak hier“ – er deutet auf ein köstlich duftendes Lendenstück, das gerade in der Pfanne brutzelte, „alle Informationen, die da drinstecken, Eiweiß, Proteine, Aromastoffe usw., analysiert mein Computer, zerlegt die Materie in Box 1, überträgt sie drahtlos in Box 2 und setzt sie dort wieder zusammen!“ Dann machte er es mir vor. Aber als das Steak in Box 2 ankam, war es kalt. Außerdem schmeckte es fad – der Computer hatte Pfeffer und Salz vergessen. Er war untröstlich.
1. August. Die Nacht über kein Auge zugetan. Heiner ist der Durchbruch gelungen! Er hat sich zum ersten Mal „gen“ lassen und mich geküsst. Ich glaube, auch ich habe mich ein Stück weit in ihn verliebt. Vor dem Frühstück wollte er im Überschwang den ersten Selbstversuch wagen. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten. „Was ist, wenn sich der Computer wieder irrt? Versuch es lieber mit was anderem.“ Und tatsächlich, statt des Tilsiters landete in Box 2 sein Socken auf der Butterstulle. Irgendwie nimmt das Programm die Befehle zu wörtlich …
3. August. Etwas Schreckliches ist passiert. Heiner hat in meiner Abwesenheit einen Selbstversuch durchgeführt. Er trägt jetzt ständig eine Fliege. Heiner meint, dass wohl seine Fliege mit in Box 1 geraten ist und der Computer sie mit ihm genetisch verknüpft hat. Das sind die Risiken des Fortschritts. Immerhin, Heiner kann sich jetzt wenigstens auf jedem Empfang sehen lassen.
1. August. Das Problem ist: Die Fliege ist an seinem Hals angewachsen. Zumindest muss er sie jetzt nicht mehr selber binden. Als ich ihn küssen wollte, fing das Ding auch noch zu rotieren an. Hoffe, dass das ein Ausrutscher war.
2. August. Ich ertappte Heiner auf einer Haushaltsleiter, die Arme weit ausgebreitet, die Fliege auf Hochtouren rotierend. Als er mich bemerkte, fing sie zu stottern an, und er stürzte ab. Gottlob hat er sich nichts gebrochen. Er mutiert zusehends in Richtung Flugwesen.
5. August. Heiner unausstehlich. Faselt dauernd von befreiter Existenz, Sturzflug und Loopings. Als ich ihn auf die Überfüllung des Luftraumes aufmerksam mache, nennt er mich kleinmütige Tussi! Während ich ihn praktisch nur noch auf seiner Leiter sehe, ist unsere Beziehung auf dem Tiefpunkt angekommen. Nachts habe ich ihm fürs Erste die Landerechte verweigert.
7. August. Wenn ich ihm unangenehme Wahrheiten sage, schaltet er einfach seine Fliege an, die mittlerweile auf die Größe eines Cessna-Propellers angewachsen ist, und hüpft davon. Wenigstens klappt es mit dem Abheben noch nicht so ganz.
9. August. Heiner wird immer größenwahnsinniger. Obwohl er wiederholt in den Blumenrabatten hinter dem Haus notlanden musste, will er eine private Fluglinie aufmachen. Als ich ihn fragte, wo denn die Passagiere Platz nehmen sollten, meinte er nur spitz: „Huckepack“. Für diesen Billigstflieger kriegt er doch nie eine Lizenz vom Luftfahrtbundesamt!
10. August. Ich schaffe es nicht mehr – langsam fange auch ich an durchzudrehen. Heiner schläft ab sofort im „Hangar“. Ich weiß nicht, was ich an seiner Seite noch zu suchen habe. Ist es die nie zu stillende Neugier der Journalistin, die mich nicht aufgeben lässt? Oder bin ich ganz einfach seinem Triebwerk verfallen??
12. August. Allmählich verliere ich den Bezug zu Raum und Zeit. Die Konturen der Logik verdunkeln sich zusehends. Heiner verlangt mittlerweile nur noch nach Kerosin.
13. August. Nimmt denn dieser Alptraum nie ein Ende? Habe seit Tagen kein Auge mehr zugemacht. Fieberfantasien schütteln mich. Vielleicht sollte ich auf Stewardess umsatteln …
Hier bricht das mysteriöse Tagebuch ab. Helen Burdik wurde seither nicht mehr gesehen. Vermutlich ist sie Heiner Wernigehage nach Florida gefolgt. Er hat dort „Heiner Air“ gegründet und bietet Huckepack-Rundflüge über den Everglades an. Dem Vernehmen nach ist er gut ausgebucht. RÜDIGER KIND