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Archiv-Artikel

Deutsche Täter – deutsche Opfer

Neben der Lust am eigenen Leid kann auch die Lust an der nationalen Scham zur Obsession werden. Eine Antwort auf Natan Sznaider und Günther Jacob

Auch wenn das erlittene Unrecht seine Vorgeschichte hatte: Es bleibt dennoch Unrecht

Die berühmteste Parole dieser jungen Menschen, Kinder der Nachkriegskinder, ist, sie seien stolz, Deutsche zu sein. Wenn einer das behauptet, weiß er, dass er auf Widerspruch stoßen wird. Möglicherweise ist dies der Grund, warum er seinen Stolz-Satz aufsagt. […] Wie wird widersprochen? Wegen der Opfer der Deutschen dürfe man nicht stolz sein, Deutscher zu sein. Der „Stolze“ bemerkt, dass die anderen sich schämen. Er treibt sie in jene Ecke, aus der sie sich nur befreien können, wenn sie ihn mit einer Übertreibung („Nazi!“) beleidigen, worauf er ebenso übertreibt – und der Dummdialog der einschnappenden Reflexe kann beginnen.

Bodo Morshäuser: „Warten auf den Führer“, Frankfurt/M. 1993

Natan Sznaider und Günther Jacob haben Recht, wenn sie (am 14. 8. 03 an dieser Stelle) behaupten, die Klage über die deutschen Opfer am Ende des Zweiten Weltkriegs diene der Verdrängung von nationaler Schuld und der Verleugnung historischer Wahrheit. Diese lärmende Klage war in der Nachkriegszeit Teil jener kollektiven „Unfähigkeit, zu trauern“, die das aufkommende Entsetzen über das Angerichtete im allgemeinen Wiederaufbaueifer und im kollektiven Selbstmitleid ertränken sollte.

Aber mit ihrer Behauptung, daran habe sich nichts geändert, die Deutschen versuchten immer noch, „sich selbst in einer Opferrolle darzustellen“, die gegenwärtige Debatte über deutsche Opfer verfolge das gleiche Ziel einer obsessiven Selbstentlastung, irren Jacob und Sznaider. Und ich befürchte, es ist ein interessierter Irrtum, der seinerseits etwas verleugnet und verdrängt. Ihr Versuch, die Zeit hier stillzustellen, entspringt einer eigenen Obsession. Symptomatisch, dass die beiden sich in ihrer Predigt auf ein Pamphlet von 1971 (!) berufen, wenn sie den Deutschen bescheinigen, ihre Vergangenheitsbewältigung basiere auf einer bloß „abstrakten Schuldanerkenntnis“, und bestreiten, dass „die Deutschen ihre Taten je bereuten“.

1. Ein doppeltes Tabu auf der deutschen Geschichte

Entgegen anders lautenden Legenden hat die intensive Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus erst in den Sechzigerjahren begonnen; dazu bedurfte es offenbar der Erschütterungen, die der Frankfurter Auschwitz-Prozess auslöste. Es stimmt, nicht aus freien Stücken wandte sich die Kriegsgeneration der tabuisierten Nazivergangenheit zu, sondern unter dem als inquisitorisch empfundenen Druck einer aufbegehrenden Jugend, die ihren Eltern bohrende Fragen stellte. Es stimmt aber auch: Das Schweigegebot in Deutschland wurde während der Zeit der Studentenbewegung wirklich gebrochen, und seither wird das Thema an Schulen, in den Familien, in den Medien, in der politischen Öffentlichkeit eingehend behandelt. Zahllose „deutsche Debatten“, nicht zuletzt die über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, belegen die Breite und Tiefe dieser nationalen Selbstverständigung. Gerade weil das Tabu eine kognitive und affektive Leerstelle markierte, an der das ungeheure Geschehen mental versteinert war, hatte der Tabubruch aufklärerische Konsequenzen.

Im Rückblick lässt sich sagen: Beim Versuch, im Windschatten des Kalten Krieges die fällige Trauerarbeit zu vermeiden, hatte die Kriegsgeneration hohe moralische Rechnungen angehäuft, die schließlich von der nächsten Generation zu begleichen waren. Wir kündigten die Schweigevereinbarung. Sie betraf den Massenmord an den Juden, die Verfolgung von Zigeunern, Homosexuellen und politischen Gegnern, den eugenischen Feldzug gegen psychiatrische Patienten, die Verbrechen der Wehrmacht, die Unterwerfung der Kirchen, die Gleichschaltung der Wissenschaften, die Indienstnahme von Medizin und Justiz – kurzum alle möglichen Untaten des Nationalsozialismus, der bekanntlich nicht als Fremdherrschaft über die Deutschen kam. Weil es um Täterschaft ging, wollten wir von deutschen Opfern nichts mehr wissen. Bis dahin war der deutsche Opferdiskurs nämlich keineswegs tabuisiert, wie Günter Grass und andere uns weismachen wollen. Im Gegenteil, wer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, musste sich buchstäblich Augen und Ohren zuhalten, um von diesem angeblichen Schweigen verschont zu bleiben (während man sich in der sozialistischen DDR in toto auf die Opferseite schlug und die Schuld an dem Jahrhundertverbrechen auf den Klassenfeind im Westen projizierte).

Der völkische Wahn produzierte auch den Hass, der den deutschen Volksgruppen entgegenschlug, als das Wahnsystem an allen Fronten zusammenbrach. Die faschistische Barbarei ging der Vertreibung voraus – das ist der historische Zusammenhang: Die Deutschen waren zuerst Täter, bevor sie auch Opfer wurden. Das Gleiche gilt für die beiden Tabus: Das Tabu über der Nazivergangenheit war zuerst da – und musste mit Hilfe eines zweiten Tabus gebrochen werden. Das Beschweigen der Täterrolle ging der Tabuisierung der Opferrolle voraus. Seitdem gehört der deutsche Opferdiskurs zum ideologischen Kernbestand einer marginalisierten Rechten, mit dem sie die Linke provoziert.

2. Die historische Wahrheit ist unteilbar

Das Beschweigen der deutschen Täterrolle ging der Tabuisierung der deutschen Opferrolle voraus

Heute gibt es keinen Grund mehr, dieses Thema den Vertriebenenverbänden zu überlassen. Diese müssen sich freilich der ganzen Wahrheit stellen, wenn sie die Anerkennung ihrer Leidensgeschichte erwarten. Aber auch wenn das erlittene Unrecht seine Vorgeschichte hatte: Es bleibt dennoch Unrecht. Wer darin die gerechte Strafe dafür sehen will, dass Deutschland die Welt in die Katastrophe stürzte, übersieht nicht bloß, dass die Opfer unter den Deutschen zu selektiv verteilt waren – er verrechnet das Leiden. Ein aufgeklärtes Gedächtnis braucht aber nicht länger nach politischer Opportunität auszuwählen, welche Opfer der Erinnerung wert sind und welche nicht. Die millionenfache Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten gehört zur europäischen Erfahrung ebenso dazu wie die Bomben auf Dresden, Hamburg oder Halberstadt.

Deutschland hat inzwischen ein vergleichsweise kritisches, selbstreflexives Verhältnis zu seiner Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert gewonnen, das die Übernahme seiner historischen Schuld und Verantwortung einschließt und auf Erinnerungstabus verzichten kann. Diese Leistung anzuerkennen ist für die Verfechter eines negativen „linken“ Nationalismus („Nie wieder Deutschland!“) schwer erträglich. Weil sie den faschistischen Zivilisationsbruch im Grunde zur geschichtsphilosophischen Erfüllung der Nation erklärt haben, predigen Günther Jacob und Natan Sznaider insgeheim einen moralischen Narzissmus des besseren Deutschen, der sich voll Stolz zur nationalen Schande bekennt. Beharrlich müssen sie deshalb die kathartischen Wirkungen der Erinnerungsarbeit ignorieren, die sie doch so obsessiv einfordern.

MARTIN ALTMEYER