piwik no script img

Archiv-Artikel

Brigade Fliewatüüt rüttelt noch

aus Kesselsdorf THOMAS GERLACH

Es gab eine Zeit, da flogen viele hundert Piloten tschechische Flugzeuge und sowjetische Hubschrauber, sie streuten Stickstoff auf die Felder der LPG und sprühten zweifelhafte Dinge auf Apfelplantagen. Die vielen Piloten waren Agrarflieger der Interflug, sie starteten neben den Agrochemischen Zentren ACZ, wo der Dünger gelagert wurde und die es so häufig gab wie heute Toyota-Autohäuser oder Küchenfachgeschäfte. Diese Piloten waren die Treckerfahrer der Lüfte, sie steuerten keine Tupolew nach Havanna, auch keine Panzer brechenden Waffen wie die Jäger der NVA, sie ließen Harnstoff regnen auf die Felder irgendeiner LPG „Rosa Luxemburg“ in Kleinkleckersdorf. Im Wendejahr 1990 wurden die vielen LPGs in Öko-Agrargenossenschaften oder in Gesellschaften bürgerlichen Rechts umgewandelt, und die zerfressenen Hallen der ACZ waren plötzlich Altlasten. Die meisten Piloten setzten zur letzten Landung an, feierten noch einmal Betriebsvergnügen und bewarben sich als Küchenverkäufer, im Autohaus oder gingen in Rente. So viel zur Vorgeschichte. Heute sprühen die Bauern die zweifelhaften Dinge selbst, und die Flugzeuge und Hubschrauber fliegen wahrscheinlich über Südamerika. Aber einer fliegt noch über Sachsen und hält Ausschau nach Bränden: Günter Unger, 51 Jahre alt, fast zwölftausend Flugstunden und immer sicher gelandet.

Über Sigmund Jähns Geburtsort

Unger steuerte früher einen sowjetischen Kamow-Hubschrauber und gehörte zur Agrarfliegerstaffel Dresden, heute fliegt er einen amerikanischen Hughes 500 und arbeitet beim Heliservice Sachsen. Düngerstreuer oder Heliservice, Namen haben sich geändert, die Technik auch, Luft und Menschen sind dieselben, und auch das Häuschen mit den himmelblau gestrichenen Türpfosten am Dorfrand steht noch. Damals war es die Zentrale der Düngerstreuer, heute grüßt das Schild vom Heliservice – das nennt man Transformation. Wir schreiben den 13. August 2003, und um korrekt zu sein wie ein Pilot: Kleinkleckersdorf heißt in Wirklichkeit Kesselsdorf und liegt bei Dresden.

Der Hubschrauber ist noch nicht zu sehen, Günter Unger fliegt gerade noch überm Vogtland die erste Tagesrunde. Bei Morgenröthe-Rautenkranz, dem Dorf, wo Sigmund Jähn, der einzige Kosmonaut der DDR, geboren wurde, dreht er bei, alles ruhig, kein Rauch zu sehen, mit 220 Sachen Rückflug nach Kesselsdorf. Im Häuschen – Tower zu sagen wäre bestimmt übertrieben – wischt sich Marko Schmidt den Schweiß mit einem Handtuch aus dem Nacken und spricht danach zu irgendjemand ins Telefon: „Ja, wir haben heute ganz Sachsen, es gibt nicht ein Forstamt, das nicht Waldbrandwarnstufe 3 oder 4 hat.“

Schmidt ist ein gemütlicher Kerl in T-Shirt und blassroten Hosen, seine Ansage klingt weniger besorgt als zufrieden, der Günter hat zu tun und mit ihm Marko Schmidt. Der steht vor der Sachsenkarte mit allen Forstämtern von Weißwasser bis Plauen, und alle werden heute vom Heliservice besucht. Und wenn die beiden zu tun haben, ist auch der dritte Mann auf Schicht. Falk Teller, die erste Schicht hat er in einer Feinfrostfirma geschoben, und die ist fürs Portmonee, die zweite hier draußen ist fürs Gemüt. In Shorts und Unterhemd steht er da wie im Fitnessraum und behält sein Wissen noch für sich.

Die Tür springt auf, ein Mann kommt herein, blauer Overall, weiße Söckchen, braune Wildlederschuhe, ein ordentlicher Händedruck, kurzer dunkler Schopf, ein paar graue Häarchen – kein Lufthansa-Beamter, kein Panzerbrecher, auch kein Hobbypilot. Günter Unger muss lautlos gelandet sein, andere schleichen sich so höchstens mit dem Toyota an. Unger macht einen Exkurs: „Was war heute vor 42 Jahren?“ – „Mauerbau“, murmelt es. „Falsch! Der antifaschistisch-demokratische Schutzwall wurde errichtet. Und was war noch?“ Schulterzucken. „Es war Sonntag.“

Sitze wie im Trabant 601

Abflug Runde zwei. Über Sachsens Nordwesten, Riesa, Torgau, die Dübener Heide, immer die Elbe entlang. Wetter vom Dresdner Flughafen, und rein in den Hubschrauber mit der Kanzel aus Plexiglas. Erinnerungen an das Fliewatüüt werden wach, jenes amphibische Kinderbuchgefährt, das mit Himbeersaft betrieben wird.

Unger startet, Schmidt und Teller bleiben zurück, der Windsack hängt schlaff auf halb neun. Die Maschine schraubt sich in den Himmel, es rüttelt ein bisschen, Hubschrauber klingt altmodisch, Helikopter modern, an den Sachen ändert das nichts. Die Sitze etwa. Über dem Meißner Dom kommt Unger auf sie zu sprechen. Billigste Ware, so ein Hubschrauber kostet eine halbe Million, aber Sitze wie im Trabant 601. Die Elbe glitzert, kein Rauch weit und breit, unten staubt nur ein Trecker. Sollte es irgendwo brennen, könnte Unger gleich zum Angriff übergehen, der Wassersack liegt auf der Rückbank.

Unten zieht ein alter russischer Schießplatz vorbei, Birken stehen wie Unkraut. Nebenan hat das schon nicht mehr ganz neue Sachsen jede Straße asphaltiert, schneeweiße Striche gezogen, Kirchturmspitzen vergoldet, Gewerbegebiete eröffnet, Autohäuser und Küchenstudios – ein Puppenstubenland mit echten Menschen. So fliegen Ministerpräsidenten und Kanzler und spähen nach dem Aufschwung.

Günter Unger späht nur nach Rauch. Um ein Haar wäre wohl auch er ein Küchenverkäufer oder sonst was geworden. Ein Glück, dass er Hubschrauber fliegt, die sind begehrter als Flugzeuge, sie können überall landen, in der Luft stehen bleiben, und wenn es irgendwo brennt, wird der Wassersack angehängt. Wenn ein reicher Mann die Schumachers rasen sehen will, zwängt er sich auf den Schaumstoffsitz und lässt sich zur Piste kutschieren. Hubschrauber sind wie Taxen, Luxuslimousinen und Feuerwehr in einem, nicht nur poplige Düngerstreuer. Vielleicht haben die Agrarflieger damals „Magnum“ gesehen, zu einer schönen Action gehört eben ein flinker Helikopter, nicht nur auf Hawaii. „Das ist unsere letzte Tat im Sozialismus, dass wir für alle Arbeit besorgen“, zitiert Günter Unger 200 Meter über Sachsen seinen damaligen Chef. Oben surrt der Rotor, unten leuchten die Äcker graugelb wie Kokosmatten, Kiefern stehen wie Streichhölzer. Der Sozialismus nahm sein Ende, der Heliservice seinen Anfang. Er ist das einzige von Ostdeutschen gegründete Hubschrauberunternehmen, ein Nachkomme der Interflug, und hat jetzt zehn Angestellte, plus Falk Teller.

Paniertes Schnitzel mit Senf

Nach der Landung setzt sich Unger in den Vorraum, Tisch, Sitzecke, zwei Polsterstühle. Luftfahrt kann sehr zivil sein, keine Uniformen, keine Hierarchien, nur Kaffee, Kuchen und ein paniertes Schnitzel mit Senf, das kredenzt Marko Schmidt in der Agrarflieger-Lounge. Kaffee und Kuchen für die Gäste, für Günter das Schnitzel. Schmidt schaut, wie Unger das Schnitzel verdrückt, hinter Falk Tellers getönter Brille glimmt derweil der Elan für die Luftfahrt. Gewiss könnte er die Maschine im Schlaf bewegen, doch er hat keine Lizenz.

Christian Angermann, der jetzt hereingeschneit kommt, hat sie schon. Und der Dresdner hat noch mehr: ein U-Boot in Hamburg, das schon an die hunderttausend Besucher angelockt hat, demnächst wird es mit Raketen und Torpedos bestückt – entschärften, versteht sich. Die nächste Runde, U-Boot-Kapitän Angermann greift zum Steuer, buntes gestreiftes Hemd, kurze Jeans, einige Namen von Orten, die er fotografieren will, hat er sich auf die Hand geschrieben, das hat schon „Magnum“-Format, Unger als Beifahrer, und ab geht’s.

Drinnen im Häuschen steht Falk Teller vor der Luftkarte und beginnt nun über das VOR zu unterrichten, zu Deutsch: UKW-Drehfunkfeuer, dann streift er den Infodienst Atis und die Kursrose, die auf der Karte wächst. Verständlicher ist der Gruß der kubanischen Agrarflieger, der im Flur hängt: „Von den Flugzeugführern der Agrarflüge Kubas ihren Kollegen der Agrarflüge der DDR. Kuba Juni 1977“, steht eingraviert unter den Umrissen der Insel. Nun präsentiert Marko Schmidt das Brigadetagebuch der einstigen Agrarflugstaffel, so etwas hat keine Lufthansa im Safe. „Heute sagt man uns ja, wie wir damals gelebt haben“, murmelt Schmidt wie ein Bibliothekar, da sei es gut, wenn man noch mal hineinschauen kann. 1980 etwa besuchte Hans Modrow, damals SED-Chef des Bezirks Dresden, knackig in Lederjacke das Häuschen. Auf einem Foto sitzt er am Steuer und grient wie Heinz Rühmann. Später kam der Landwirtschaftsminister Nicaraguas und ließ sich über die Z 37 aus der ČSSR aufklären. „Nach zirka 35 Minuten Rundgang verabschiedete sich der hohe Gast vom Leiter der Bezirksstaffel und setzte seinen Besuch in der LPG Grumbach fort“, ist notiert. Und ein loses Blättchen: „Zu unserem diesjährigen Staffelvergnügen am 20. 10. 1990 laden wir Sie und Ihren Ehepartner recht herzlich ein.“ Das war wohl das letzte Betriebsvergnügen? Von wegen! „Wir treffen uns mit den Ehemaligen aller ein, zwei Jahre“, antwortet Schmidt und legt die Urgeschichte des Heliservice zurück.

Am Abend nimmt Falk Teller eine Windwarnung entgegen, er kommt aus dem Tower mit den himmelblauen Türen und registriert „schöne Kumuluswolken, acht Kilometer hoch. Wenn’s heute brennt, wird’s beschissen.“ Es brennt nicht. Wenn die Gefahr vorüber ist, feiert der Heliservice hoffentlich Staffelvergnügen. Gelegenheit, das mit den Sitzen anzusprechen, vielleicht finden die alten Kollegen mit Küchen- und anderer Erfahrung eine Lösung. Aber das hat nichts mit Waldbrand zu tun.