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Archiv-Artikel

Verstehen und vergeben

Vergangenen Donnerstag starb der legendäre Gerichtsreporter Gerhard Mauz

Es ging um Deutschlands am längsten einsitzenden Häftling, Heinrich P., der Ende der 50er-Jahre im Badischen als Frauenmörder Entsetzen verbreitet hatte. In seiner Geschichte konzentrierte sich die Frage, wie lange Schuld währt: Durfte Heinrich P. für immer bestraft werden, durfte „lebenslänglich“ bei ihm genau das heißen – ein Leben lang im Knast? Einer hatte die Unterlagen, das war Gerhard Mauz, der legendäre, 1999 schon seit Jahren pensionierte Gerichtsreporter vom Spiegel.

„Wissen Sie“, sagte er, der in einem grünen Hamburger Vorort wohnte, „meine Redaktion hat mich gezwungen, mein Material nach Hause zu holen, jetzt ist es hier im Keller. Da könnten Sie natürlich mal schauen.“ Das Problem? Er setzte hinzu: „Es handelt sich freilich um einige hundert Kisten und Aktenordner.“ Uff – dann doch lieber andere Wege bemühen.

Aber Mauz wollte schon wissen, warum man sich für einen Frauenmörder interessierte, und unbedingt wollte er eines klargestellt haben: dass es nicht darum gehen dürfe, Skandal und Strafe herbeizuschreiben, sondern um Verstehen und Vergeben. „Das müssen Sie mir versprechen, mein Kind, dass Sie daran denken, wenn Sie schreiben!“ In den 90er-Jahren waren die Liberalisierer von Strafrecht und Strafvollzug längst schon mit Rückzugsgefechten beschäftigt, die Würde von Häftlingen, von Schuldigen kein Thema mehr.

Gerhard Mauz litt darunter. Denn er hat mit unzähligen Reportagen und Berichten versucht zu beschreiben, warum die Schuld des Einzelnen immer auch die Schuld aller ist. Er wollte nicht, dass der Verbrecher seine Schuld auf das Kollektiv abwälzen kann. Aber er wollte, dass die Gesellschaft ihre Verbrecher nicht als „Monster“ oder „Bestien“ aussondert, sondern schändliches Handeln als Ausdruck gemeinsamen Versagens begreift. Auch wenn oder gerade weil ein Verbrechen letztlich unbegreiflich bleibt, darf jedes Urteil nur vorläufig gelten – und kein „lebenslänglich“ lebenslang.

Dafür schrieb Mauz, studierter Psychologe. Er war der Justizreporter der Bundesrepublik, erst bei der Welt, ab 1964 beim Spiegel. Es gab keinen neben ihm, nur welche, die entweder genauso wie oder ganz anders als er schreiben wollten. Natürlich schrieb er nicht nur über Serienmörder, sondern über alle großen Prozesse der Republik, RAF, Contergan, Memmingen, Mitte der 90er auch über den O.-J. Simpson-Prozess in den USA.

Dass er irgendwann einfach nicht mehr so wichtig genommen wurde, dass er im Spiegel seiner von ihm überaus geschätzten Nachfolgerin Gisela Friedrichsen das Feld dann ganz überlassen sollte, hat ihn gewurmt. Aber er wird gewusst haben, dass niemand, der in einem Gerichtssaal sitzt und mitschreibt, dabei über ihn hinwegschreiben kann. Am vergangenen Donnerstag ist Gerhard Mauz mit 77 Jahren gestorben. ULRIKE WINKELMANN