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Archiv-Artikel

„Ein ganzes Weltgefüge dreht sich“

Wie auch der entfernteste Krieg unsere Wahrnehmung verändert: Ein Gespräch mit Martin Wuttke über seine Inszenierung der „Perser“ von Aischylos auf einem Flugzeughangar in Neuhardenberg, über Brachen, Grenzen und das Gefühl der Veränderung

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Neuhardenberg, kurz vor der polnischen Grenze. Dort probt Martin Wuttke mit sechs Schauspielern, untern ihnen Sophie Rois und Volker Spengler, „Die Perser“ im großen Hangar eines stillgelegten Flugplatzes. Tage vor der Premiere gleichen die Proben einem Campinglager außerhalb Berlins. Die Theater in der Stadt haben noch Ferien, hier draußen aber geht es unermüdlich weiter. Jede Entfernung ist hier so weit, dass sich selbst von der Kaffeeküche hinten bis zu der Tribüne, die voller alter Sofas steht, ein Fahrrad empfiehlt.

taz: Dieser Hangar hier in Neuhardenberg, kurz vor der polnischen Grenze, ist ein ungewöhnlicher Ort für ein Theaterstück. Eingeladen, hier zu arbeiten, hat Sie die Stiftung Schloss Neuhardenberg. Sie arbeiten aber nicht in dem sauber sanierten Schloss, sondern auf diesem Flugplatz. Warum?

Martin Wuttke: Mit dem Flughafengelände konnte ich sofort etwas anfangen. Das hat viel mit der Gegend zu tun, in der ich groß geworden bin. Das Ruhrgebiet der Sechzigerjahre, mit seinen riesigen Industriebrachen, die der Krieg zurückgelassen hatte, mit dieser Ruinenlandschaft, die aufgeladen war mit Bedeutungen aus der Vergangenheit, von denen nur noch Spuren und Fragmente übrig geblieben waren. Das waren Zonen, die von Erwachsenen nicht betreten wurden, in denen man unbewacht war, in denen es keine Erziehung gab. Das waren seltsame Spielplätze, wo man die erste Zigarette geraucht hat, das erste mal geknutscht oder Drogen genommen hat. In eine solche Landschaft Kultur zu verfrachten, ist ein ambivalentes Unternehmen, weil der Ort von sich aus schon sehr viel erzählt.

Dieser Flughafen hat eine eigene Rolle gespielt in der Militärgeschichte der Wehrmacht und der DDR. Ist das von Bedeutung für ihr Projekt „Die Perser“?

Um dieses Flughafengelände, um den Ort Neuhardenberg und um diese ganze Gegend hier ranken sich verschiedene Mythen. Auf dem Flughafen haben die ersten Tests für raketenbetriebene Flugzeuge stattgefunden, unter Teilen der Landebahn liegen Soldaten des Zweiten Weltkrieges begraben, später war es erst Transportflughafen der DDR-Regierung, dann der Bundesregierung, jetzt weiß man nichts mehr damit anzufangen. Von den Seelower Höhen aus fand der Sturm auf Berlin statt. Stalin hatte eine unglaubliche Waffendichte zusammengezogen. Innerhalb weniger Tage, kurz vor Kriegsende, sind hier etwa fünfundfünfzigtausend Soldaten gestorben, auf beiden Seiten. Der Landstrich war danach eine einzige Wüste. Wenn man hier die Erde umgräbt, findet man heute noch überall Knochen oder Waffenreste. Überall stößt man auf Soldatenfriedhöfe. Wenn man das alles weiß, drängt sich diese Geschichte notwendig in das, was man hier gegenwärtig tut.

Der dritte Irakkrieg begann gerade, als Sie mit den Vorbereitungen für die Inszenierung begannen. Hat das den Zugang zum Stück beeinflusst?

Ich habe nachts vor dem Fernseher gesessen, den Stoff gelesen, hin und her geschaltet zwischen irgendwelchen Talkshows, in denen Menschen über ihre privaten Probleme reden, Werbung, B-Pictures und den Nachrichten auf n-tv mit Bildern, auf denen nichts zu sehen war, was los ist. In dieser seltsamen Zerschnittenheit und Unentschiedenheit des zivilen Lebens vor dem Hintergrund des Krieges findet für mich das Stück statt.

Der Krieg auf dem Theater ist das Thema vieler Tragödien. Wie weit aber ist das noch brauchbar als Form, über die Kriege der Gegenwart nachzudenken?

Diese erste schriftlich überlieferte Tragödie bezieht sich auf die Schlacht von Salamis. In den „Persern“ taucht eine Gesellschaft auf, die sagt, wir wissen, dass unser Reichtum auf den Kriegen beruht, die wir geführt haben, daran gibt es keinen Zweifel. Unser Glück beruht auf den gewonnenen Kriegen. Das ist die Grundvoraussetzung, das wird akzeptiert.

Wie lässt sich denn von der Antike eine Verbindung zu den Seelower Höhen und dem Ende des Zweiten Weltkriegs herstellen?

Das Ungewöhnliche an dem Stück von Aischylos, der an der Schlacht auf der Seite der Griechen teilgenommen hat, ist, dass es aus der Perspektive der Besiegten erzählt wird. Man weiß plötzlich nicht mehr, wo Osten und Westen ist, wo haben diese Kriege stattgefunden, wer sind die Sieger, wer die Besiegten. Die Gedenkstätte der Schlacht bei den Seelower Höhen hatte noch bis zur Wende den Sieg der sowjetischen Armee und damit die Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus gefeiert.

Das Tolle bei Aischylos ist, dass eine Geschichte erzählt wird über eine Gesellschaft, die sich schon vor der Nachricht vom verlorenen Krieg im Untergang befindet, und gleichzeitig spürt man doch, dass man das auch austauschen könnte, dass so auch Sieger reden könnten. Man weiß manchmal gar nicht, welche Partei spricht. Das verschiebt sich dauernd. „Wo um Himmels willen liegt eigentlich dieses Athen?“ Das fragt die Königin der Perser. Genauso fragen wir, wo liegt eigentlich Bagdad? Wo liegt dieses Tikrit? Da wird eigentlich nicht nur nach einem Ort gefragt, sondern auch nach der Perspektive derer, die danach fragen. Worum wird in dieser Wüste eigentlich gekämpft, was ist der Gegenstand der Auseinandersetzung. Die Antworten auf diese Fragen bestimmten eigentlich den Ort, an dem ich stehe.

Das Stück nimmt dem Krieg gegenüber grundsätzlich eine ganz andere Haltung an, als etwa in der Formulierung des „gerechten Krieges“, die zurzeit in der Politik wieder eine große Rolle spielt – einmal in der Haltung der Amerikaner, warum sie gegen den Irak ziehen, oder auch als Figur in der Theorie des Empire, in der supranationale Macht festsetzt, was gerecht ist und was nicht. Sehen Sie in den „Persern“ eine Form, gegen die Rede vom „gerechten Krieg“ zu argumentieren?

Danach fragt das Stück nicht. Krieg ist da, auf dieser Form von Gewalt beruht diese Gesellschaft, und plötzlich verschieben sich da die Machtverhältnisse. Dadurch stellen sich andere Fragen. Längst vor der Nachricht von dem verlorenen Krieg haben alle Figuren das Gefühl, dass da etwas zerbrochen ist. Die Königin hat Träume, der Chor hat böse Vorahnungen; die Gesellschaft scheint innerlich schon zerbrochen, bevor die Nachricht der Niederlage kommt.

Sehen Sie darin auch einen Bezug zur Gegenwart?

Diese Clique spricht dauernd von einem Innenleben, da wird diskutiert, was der Krieg für den einzelnen, zivilen Menschen bedeutet. Ich glaube, dass das etwas mit unserer Lebensrealität und der Wahrnehmung des Krieges zu tun hat, der uns nicht unmittelbar betrifft – man sieht Bilder, dann geht man wieder einkaufen, kümmert sich um die Kinder, lebt weiter und ahnt doch, dass sich das Gefühlsleben der Gesellschaft ändert. Die Kriege, die im Moment geführt werden, werden nicht so schnell zu Ende gehen. So oder so wird es danach ein anderes Weltbild geben, das man jetzt noch nicht abschätzen kann. Dieses Gefühl der Veränderung, dass es nicht nur um eine verlorene Schlacht geht, sondern ein ganzes Weltgefüge sich dreht, in welche Richtung auch immer, das findet man auch bei Aischylos.