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Archiv-Artikel

Der Tempel von Monrovia

Wo früher Limousinen an der Marmortreppe parkten, stehen heute Zelte für FlüchtlingeDie Vertriebenen kochen im Bankettsaal Wildwurzeln, um den Hunger zu stillen

aus Monrovia HAKEEM JIMO

Früher hätten sie keinen Fuß in dieses Haus setzen dürfen. Der Tempel der Freimaurer von Liberia war einer kleinen Elite vorbehalten. Viele Liberianer hatten sogar Angst, sich dem Haus auf dem Berg auch nur zu nähern. Gerüchte von Menschenopfern und geheimen Zeremonien flößten den Menschen unten in der Stadt Angst ein. Jetzt ist der „Masonic Temple“ überfüllt. Vor rund zwei Monaten stürmten tausende Vertriebene in die herrschaftlichen Räume. Sie gehören zu den weit über einer halben Million Flüchtlingen des Bürgerkriegs.

Fatu Kamarah kam im Juni mit ihren acht Kindern und der Großmutter aus dem rund 70 Kilometer entfernten Ort Medina – zu Fuß. Der Weg in die Sicherheit dauerte für ihre Familie fast zwei Wochen. „Wir konnten nichts retten. Das bisschen, was hier herumsteht, mussten wir uns in Monrovia suchen“, sagt die 40-Jährige. Fatu Kamarah muss alleine für ihre Familie sorgen. Der Mann ist schon vor Jahren gestorben. Vor den Jahren des Bürgerkriegs habe sie über 100 Kilo gewogen, heute sei es nur noch die Hälfte, sagt die zierliche Frau. Die zehnköpfige Familie hat einen Platz so groß wie fünf Tischtennisplatten in der ehemaligen Großküche gleich neben dem Bankettsaal gefunden. Stumpfe, vergilbte Kacheln erinnern an den Ort, wo ganze Küchenmannschaften Speisen für die erlesene Logengesellschaft zubereiteten.

Auch die Szenerie draußen vor dem Eingangsportal verbindet wenig mit der Vergangenheit. Wo früher Limousinen vor der Marmortreppe parkten, stehen heute Zelte des Hilfswerkes „Ärzte ohne Grenzen“. Die Menschen trocknen ihre Wäsche auf dem mit zierlichen Säulen geschmückten Abgrenzungsmäuerchen. Kinder in zerrissenen Hemden belagern den Aufgang im Foyer. Vor den Fenstern wehen Planen, um die Sonne abzuhalten. Sandsäcke auf Balkonen, vor Türen und Fenstern sind bis in Kopfhöhe zum Schutz vor Querschlägern der Maschinengewehre und Mörserattacken gestapelt. Frischluft dringt nur spärlich herein. Die Luft im Inneren ist gesättigt von menschlichen Ausdünstungen und der Feuchtigkeit der Tropen – gerade jetzt in der Regenzeit an der Westküste Afrikas. Dazu mischen sich Rauch von kokelndem Holz, der Duft von geschnittenem Gemüse, blubbernden Soßen und köchelndem Reis.

Der „Masonic Temple“ ragt als Wahrzeichen über der Hauptstadt Liberias auf. Die Innenstadt Monrovias liegt dem vor knapp 40 Jahren entstandenen Bau zu Füßen. Heute gleicht der Palast eher einem Mahnmal. Vollständige Plünderung und teilweise Zerstörung haben dem Tempel allen Glanz genommen. Die Hauswände sind schwarz und braun angelaufen. Moos wächst in Spalten und Ritzen. Nur noch der marmorne Boden und die gewaltigen Räume für Banketts oder die Sitzungen der Freimaurer lassen den Prunk von damals erahnen. Kein Raum, der niedriger als sechs Meter ist, die Decken mit Stuck verziert. Sogar eine der ersten Zentralklimaanlagen Liberias soll damals hier installiert gewesen sein. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, haben Plünderer aus dem mit vier Stockwerken hohen Gebäude von der Ausdehnung eines halben Fußballfeldes weggeschleppt. „Würde Marmor brennen, stünde heute gar nichts mehr von unserem Tempel“, sagt William Roberts. Der 80-Jährige ist Vizegroßmeister der liberianischen Freimaurer. Damit wäre er früher einer der einflussreichsten Männer des Landes gewesen.

Denn der Tempel galt als inoffizieller Regierungssitz. Fünf der Grandmaster, also der Chefs der Masonic-Loge, waren auch Staatschefs des westafrikanischen Landes. Alle anderen Präsidenten sollen Mitglieder gewesen sein – bis auf den gerade verjagten Charles Taylor. Die Freimaurer sehen sich selbst als eine karitative Gemeinschaft mit christlicher Überzeugung. Eher wären sie hier als Seilschaft und Geheimbund zu beschreiben. Ihr Tempel war für die von Macht und Wohlstand ausgeschlossene Bevölkerung Verkörperung der Ungerechtigkeit und Korruption im Land. Der Putschist Samuel Doe nahm sich Anfang der 80er-Jahre den gewaltigen Bau als eines der ersten Angriffsziele vor. Mit dem Sieg der Soldaten um Doe war die alte Machtelite abgelöst. Zum ersten Mal, seit Mitte des 19. Jahrhunderts freigelassene Sklaven aus den USA eingewandert waren und den Staat Liberia gegründet hatten, gab es eine Verschiebung zugunsten der Einheimischen im Machtsystem. Und die Mitglieder der Masonic-Geheimloge fanden sich im Visier des rachelüsternen Doe und seiner Junta. Der damals amtierende Grandmaster sowie zwei seiner Vorgänger überlebten die Tage des Putsches nicht, viele weitere Masonic-Mitglieder seien ermordet worden, sagt Roberts. Auch den offiziellen Repräsentanten des Staates erging es schlecht: 13 Minister wurden am Strand exekutiert. Als die Lage wieder ruhiger geworden war, wurde der neue Machthaber und ehemalige Masonic-Hasser Doe selbst Mitglied in der Loge.

Aber das Haus war bereits eine Ruine. Seither kamen Obdachlose, Schaulustige oder Schutzsuchende hierher. Die Wände waren beschmiert mit Parolen: „Das Beste in meinem Leben ist zu küssen und nicht zu töten“, „Meine Nächte sind so lang, meine Tage so traurig – aber das weiß keiner außer mir“ oder „Der Weg zu Frieden zeigt sich in der Fähigkeit, dem Bösen zu widerstehen“. Der brutale Stadtguerillakrieg des damaligen Kriegsfürsten und späteren Präsidenten Charles Taylor gegen Doe und andere verwüstete den Tempel ein weiteres Mal. Nach dem Einzug einer westafrikanischen Friedenstruppe hauste ein nigerianisches Bataillon über ein Jahr hier – trotz der zerschlagenen Fenster und eingetretenen Türen.

Wenigstens fließt seit einem knappen Jahr wieder Strom, seit eine Telekommunikationsfirma für ihre Antennen ein Stromaggregat aufstellte. Anfang des Jahres haben die nicht geflohenen Freimaurer sogar eine Renovierung begonnen. Die Wände wurden mit weißer Farbe übertüncht und die Wandsprüche verschwanden. Provisorisch richteten sie sich im im obersten Stockwerk ein. Klobige Stahltüren mit faustgroßen Schlössern wurden angebracht. Die Treppe in der Vorhalle bekam ein Geländer aus einfachen Eisenstangen. Man wolle im Moment nicht zu viel Geld in das Gebäude stecken. Man wisse ja nie, was in diesem Land noch alles passieren könne, sagte der Vizegroßmeister William Roberts damals.

Was passierte, war die nächste Runde im Bürgerkrieg: der mehrfache Vormarsch von Rebellen auf Monrovia, gegen Charles Taylor. Und es war die Ankunft der Flüchtlinge, die den Freimaurersitz übernahmen. Seit einigen Tagen finden sie sogar wieder bezahlbaren Reis. Vor dem Einzug der Friedenstruppe konnten sich nur die wenigsten das Grundnahrungsmittel Liberias leisten. Sein Preis war auf das Zehnfache angestiegen. Die Flüchtlinge milderten ihren Hunger, indem sie alle essbaren Wurzeln und Blätter auf ihren Streifzügen durch die Umgebung aus dem Boden, von den Sträuchern und Bäumen rupften. Palmen wurden gefällt, um den Stumpf zu kochen. „Pachanga butt“ nennen die Hungrigen eine Wildwurzel, die viermal vier Stunden in Wasser brodeln muss, bevor sie genießbar wird. Auch ihr säuerlicher Geruch durchzieht noch die Räume des Freimaurerhauses. Jede Familie hat ihren eigenen winzigen Metallofen neben die anderen Habseligkeiten gestellt und gart Essen. Matten und zerrupfte Schaumstoffmatrazen liegen auf dem schwarzen Marmorboden. Blechtöpfe und Plastikschüsseln markieren die Grenze zum Nachbarn. Zusammengeschnürte Kartons bieten etwas Sichtschutz und Privatsphäre. Kein Quadratmeter des Hauses vom Keller bis zur Großküche zu den Toiletten, der nicht mit Vertriebenen belegt ist. Der Sitz der liberianischen Freimaurer – früher Tempel der Macht für wenige, heute Refugium für alle.