Keine Angst vor dem leeren Blatt

In der Zeitschrift Ohrenkuss schreiben ausschließlich Menschen mit Down-Syndrom. Herausgegeben wird sie von der Bonnerin Katja de Braganca, die damit Jahrzehnte alte Vorurteile widerlegen kann

Von KATHARINA Klöcker

Die Zeitschrift ist so ungewöhnlich wie ihr Titel: Ohrenkuss. „Was wir hier machen, ist wahrscheinlich weltweit einzigartig“, sagt die Bonner Humangenetikerin Katja de Braganca. Vor sechs Jahren rief sie in der Bundesstadt ein Projekt ins Leben, das viele Wissenschaftler und Mediziner bis zu diesem Zeitpunkt für ausgeschlossen hielten. Ein Magazin mit Texten, geschrieben von Menschen mit Down-Syndrom. Hartnäckig hatte sich Jahrzehnte lang das Vorurteil gehalten, Menschen mit Trisomie 21 könnten weder lesen noch schreiben lernen. Weit gefehlt – das bekommt der Leser in Ohrenkuss schwarz auf weiß.

Jeder sagt seine Meinung

Dienstagnachmittag, Redaktionskonferenz. Die zehn Redakteure, die sich um den großen Tisch versammelt haben, diskutieren sich die Köpfe heiß. Sie wollen einen Brief an den Schauspieler Joachim Hermann Luger, der als Vater Beimer in der TV-Serie „Lindenstraße“ ein Kind mit Down-Syndrom hat, formulieren und ihm ihre Zeitschrift vorstellen. An den Wänden hängen Entwürfe für Titelblätter, in den Regalen stapeln sich Materialien für Recherchen, Zeitschriften und Bücher. Projektleiterin de Braganca lässt sich von den Redakteuren einen Text diktieren.

„Wir können den doch nicht einfach duzen“, wendet Julia Bertmann auf den Vorschlag eines Kollegen ein, „wir kennen ihn doch gar nicht“. Meinungsverschiedenheiten werden ohne Umschweife zur Sprache gebracht, jeder sagt, was er gut, was er schlecht findet, kritisiert, lobt. Keiner nimmt ein Blatt vor den Mund, bis Marc Häger, der ein blaues Sweatshirt mit der Aufschrift Ohrenkuss trägt, meint: „Der Brief ist gut so.“

Die Idee für das außergewöhnliche Magazin kam de Braganca bereits 1987 während eines „langweiligen Forschungsvortrags“ auf einer Tagung in Madrid. Ein Referent hatte eine Folie mit einem Text über Robin Hood von einem Jungen mit Down-Syndrom aufgelegt. „Robin Hood mag ich sowieso, aber begeistert hat mich dieser witzige Schreibstil“, erinnert sich die Humangenetikerin. Während ihrer Doktorarbeit stieß sie dann immer wieder auf Eltern, diestolz Geschriebenes von ihrem „Downie-Kind“ vorzeigten.

Unmittelbare Sprache

„Viele meiner Kollegen meinten dazu nur, das sei eben eine Ausnahme.“ Für de Braganca war die Sache allerdings nicht so klar. Mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung entstand 1998 an der Uni Bonn ein Forschungsprojekt über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Down-Syndrom und zugleich ihre Wahrnehmung der Welt. Für die daran beteiligte junge Wissenschaftlerin war klar: Eine eigene Zeitung musste her. De Braganca verwirklichte ihr Traumprojekt in einer Wohnung in Bonn-Friesdorf. Heute trägt sich das Magazin sogar ohne Zuschüsse, „obwohl mehr Abos uns natürlich finanziell sehr viel entspannter sein ließen.“

Die neueste Ausgabe zum Thema Mode ist nun kurz vor der Sommerpause fertig geworden und am Abend soll dies wie immer beim Lieblingsitaliener gefeiert werden. Die Angst vorm leeren Blatt gibt es hier nicht, erklärt de Braganca. Alles sei sehr unmittelbar geschrieben und für sie und ihre Mitarbeiter sei es „überwältigend, das mitzukriegen.“ Von der Unmittelbarkeit legen die Texte in den mittlerweile 13 Ausgaben eindrucksvoll Zeugnis ab. So diktierte Tobias Wolf zum Thema Tiere: „Ich kenne viele Tiere, die es in der Natur gibt. Und zwar gibt‘s eine Art von Tieren, das sind die Rehe. Rehe, das ist eine Seele mit vier Beinen und haben einen großen Hals und einen großen Kopf. Ich habe schon viele Rehe gesehen, die einen in Garten kommen können und können einem die Blumen abessen...“

Die Berichte, Gedichte, Interviews und Porträts werden nicht redigiert und auch orthografisch nicht korrigiert, viele schreiben selbst, andere diktieren ihre Texte. Mittlerweile steuern rund 40 so genannte Fernkorrespondenten aus ganz Deutschland – einer sogar aus den USA – eigene Texte bei. 2.000 Abonnenten beziehen das zwei Mal im Jahr erscheinende, sehr ansprechend und professionell gestaltete Heft, das auch schon mit einigen Preisen ausgezeichnet wurde.

Besonders freut sich de Braganca, dass Ohrenkuss den Eltern von Kindern mit Down-Syndrom Mut macht. Eine Leserin, die ein „Downie-Kind“ bekam, schrieb an die Redaktion: „Es war für uns ein ziemlicher Schock, mittlerweile ist das Leben aber sehr schön geworden. Ich wollte euch einmal loben für die wundervolle Seite. Es gibt mir viel Kraft zu sehen, was aus meiner Tochter alles werden kann.“

www.ohrenkuss.de