: Spaziergänger und Künstler
Wie befriedigend es ist, Zeichen der Erinnerung auf einer leeren Oberfläche zu hinterlassen: Craig Thompsons autobiografisches Comic-Meisterwerk „Blankets“
Nach seinem preisgekrönten Debüt „Good-Bye Chunky Rice“ demonstriert Craig Thompson mit seinem zweiten Comic „Blankets“ eindrücklich, was die zeitgenössische Bildgeschichte zu leisten imstande ist und dass sie es mit jeder anderen Kunstform spielend aufnehmen kann.
Thompson erzählt von seiner Kindheit in Wisconsin, die eine verdruckste, zwanghafte gewesen ist. Seine Eltern sind Frömmler von der strikten Observanz, die auch noch die Wochenenden ihrer Söhne mit Bibelstunden und die Weihnachtsferien mit einer Reise ins Kirchencamp verbauen. Wenn der kleine Craig, der früh die Zeichnerei als Zufluchtsort entdeckt, eine „Frau ohne Sachen an“ malt, muss er buchstäblich zu Kreuze kriechen – sein Heulen und Zähneklappern sind dabei nicht gespielt.
Die an Psychoterror grenzende Indoktrination, das früh ankonditionierte schlechte Gewissen, die ständigen Schuldgefühle des Kindes machen ihn zum Außenseiter in der Schule. Aus ihm wäre vielleicht ein normal kaputter Priester geworden, wenn da nicht Raina gewesen wäre, seine erste Liebe. Sie beweist allein durch ihre Existenz, dass es das Heilige schon hienieden gibt und man es sogar anfassen kann. Wie fast alle ersten Lieben endet auch diese traurig, aber Raina ist so etwas wie Craigs weiblicher Erlöser aus dem Kerker der Bigotterie: Wenn Gott schon so etwas Wunderbares wie sie geschaffen hat, kann er eigentlich auch nichts gegen die anderen wunderbaren Sachen haben, die man mit ihr anstellen kann!
Thompson erzählt diese sanft melancholische, zu Tränen rührende und doch absolut kitschfreie Geschichte mit einer enormen narrativen Raffinesse. Mit der Souveränität des geborenen Erzählers setzt er Vorausdeutungen, Reprisen, Leitmotive und verklammert die Symbole zu einem so artifiziellen Geflecht, dass man gern auch die Dissertation lesen würde, die sicher irgendwann über dieses Meisterwerk geschrieben wird. Allein die titelgebenden „Blankets“ sind vielfach determiniert: Sie bezeichnen die Schneedecke – die Liebesgeschichte spielt im Winter 1993 –, die sich schützend, beruhigend auf die Landschaft und die Gemüter legt; die Decke, mit der sich Craig und sein Bruder Phil zudecken, denn als kleine Kinder müssen sie sich ein Bett teilen; den Quilt, den Raina ihm näht, als Liebespfand, und der später die Erinnerung an sie wachhält; und schließlich diesen mit einfach Strichen gezeichneten Comic selbst, denn der Quilt, aus ganz unterschiedlichen Stoffquadraten zusammengenäht, ist ja nur das Sinnbild für dieses Buch, das ebenfalls vor allem Erinnerungen haltbar machen will. So schließt sich auch der Kreis. Zum Schluss stapft Craig einmal mehr über eine unberührte Neuschneedecke – es ist die komplett weiße Fläche des Zeichenblattes! – und besieht sich seine Spuren. „Wie befriedigend es ist, ein Zeichen auf einer leeren Oberfläche zu hinterlassen. Eine Karte meiner Bewegung zu hinterlassen … egal wie vergänglich.“ Da spricht der Spaziergänger – und der Künstler.
FRANK SCHÄFER
Craig Thompson: „Blankets“. Aus dem Amerikanischen von Claudia Fliege. Speed Comics, Bad Tölz 2004. 582 Seiten, 39 €