: Gespenstische Diskussion
Deutschland soll einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bekommen – so fordert es die Bundesregierung. Das eigentliche Ziel der UNO-Reform gerät ihr dabei aus dem Blick
Sich mit der Reform der UNO, speziell mit der Reform des Weltsicherheitsrats, zu beschäftigen, versetzt einen leicht in eine depressive Grundstimmung: die ewige Wiederkehr des Gleichen. Seit dem Ende der Blockkonfrontation, also seit Beginn der 90er-Jahre, werden mit eherner Regelmäßigkeit vernünftige Vorschläge wiederholt, ohne dass sich wenigstens ein kleines „Fenster der Möglichkeit“ für ihre Realisierung abzeichnen würde. Im Gegenteil. Die Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit hat sich mittlerweile so sehr geweitet, dass die Befürworter einer grundlegenden Reform leicht in die Rolle des verewigten Abbé St. Pierre geraten, der im 18. Jahrhundert die europäische Öffentlichkeit über Jahrzehnte mit seinem Projekt einer Weltfriedensföderation nervte, während die Kriege munter weitergingen.
Die Ziele der Reform sind leicht zu benennen und eigentlich unmittelbar einleuchtend, wenn man die Grundvoraussetzung akzeptiert: dass mittels einer Weltorganisation Kriege vermieden und ein Ausgleich zwischen der reichen und der armen Welt ins Werk gesetzt werden könnte. Hinsichtlich des Sicherheitsrats würde das bedeuten, dass die Konstellation aufgelöst wird, die im Jahr 1945 fünf Mächten ihre privilegierte, mit einem Veto gepanzerte Sonderrolle gebracht hat.
In der Diskussion ist seit langem die Erweiterung der Zahl der Vetomächte und der nichtständigen Mitglieder, wobei alle Weltregionen gleichmäßig berücksichtigt werden müssen, sodass die Dominanz des reichen „Nordens“ der Welt gebrochen wird. Unmittelbar mit diesem Projekt geht die Forderung einher, dem UN-Generalsekretär Streitkräfte mit dem Ziel der Kriegsprävention, der Schlichtung und der Eindämmung von Konflikten direkt zu unterstellen, wie die UN-Satzung dies vorsieht. Diese Maßnahmen müssten sich nach den Reformvorstellungen in einen Kontext einfügen, der den UN-Sonderorganisationen mehr Rechte und Befugnisse auf jenen Gebieten der Ökonomie und Ökologie einräumt, die heute von den mächtigen Industriestaaten dominiert werden. Den nichtstaatlichen „zivilgesellschaftlichen“ Akteuren schließlich sollten Rechte der Anhörung und Initiative eingeräumt werden. Dies und vieles mehr ist seit der „Agenda für den Frieden“ von 1992 immer wieder so feierlich wie folgenlos gefordert worden.
In der ersten Koalitionsvereinbarung von 1998 hat sich die rot-grüne Bundesregierung auf ein Programm zur Stärkung der UNO verpflichtet, das eine Reihe dieser und anderer, kontextbezogener Forderungen enthält. Aber in der Frage der Reform des Sicherheitsrats wie in so manchen anderen Politikfeldern ist sie in der Praxis mittlerweile auf einer Position gelandet, die der Ratio des Reformprojekts strikt zuwiderläuft. Was soll man beispielsweise von der Idee halten, quasi im Vorgriff zwei Ländern, Japan und Deutschland, den Status von ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats einzuräumen? Und dies möglichst noch mit dem durchsichtigen Argument, Afrika, Lateinamerika und das „restliche“ Asien könnten sich sowieso nicht auf neue ständige Mitglieder des Sicherheitsrats einigen? Der verschämte Hinweis auf die Beiträge beider Länder zum UNO-Budget (je etwa 10 Prozent) legt nahe, den Sicherheitsrat als eine Variante des Weltwährungsfonds anzusehen. Wer zahlt, schafft an.
Die Idee der Reform wird so zum Vehikel für die Durchsetzung vorgeblicher nationaler Interessen. Vorgeblich deshalb, weil es sowohl im Interesse der Europäischen Union als auch Deutschlands liegt, weltweit für den Aufbau von Institutionen einzutreten, die den Ländern der armen Welt mehr Stimme und Gewicht verleiht. So auch im Sicherheitsrat. Innerhalb eines solchen Konzepts wäre ein ständiger Sitz Deutschlands in diesem Gremium überflüssig wie ein Kropf. Oder will uns Schröder etwa suggerieren, die Interessen der Dritten Welt seien bei ihm bestens aufgehoben? Zur Entwicklung global wirksamer Rechtsbeziehungen auf gleichberechtigter Grundlage gibt es keine vernünftige Alternative.
Das sieht die amerikanische Regierung natürlich anders – und das macht das Gespenstische der gegenwärtigen Diskussion über die Reform der UNO-Strukturen aus. Während zum x-ten Mal Reformvarianten zur UNO einschließlich des Sicherheitsrats durchgehechelt werden, hat Bush längst klar gemacht, dass er dieses ganze Projekt der verstärkten Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen für die USA ablehnt. Die neue amerikanische Sicherheitsdoktrin geht nicht nur an den Institutionen der UNO vorbei, sie ist gegen sie gerichtet. Sie setzt dem Gewaltmonopol der UNO die Gewalt des eigenen Militärapparats entgegen. Eine durchgängige Linie verbindet die Intervention der USA im Irak mit ihrer Position zum Internationalen Strafgerichtshof, zum Kioto-Protokoll und zu allen Politikbereichen, wo sich die Frage stellt: Herrschaft des Hegemonen oder Herrschaft des Rechts.
Natürlich ist eine Reform der UNO an Haupt und Gliedern dringend aktuell, aber wäre es nicht sinnvoller, das Hauptgewicht auf diejenigen Projekte innerhalb der UNO zu legen, wo die Bundesrepublik sich im Verbund der EU engagieren und wo sie sinnvolle Arbeit leisten kann? Für internationale Institutionalisierungen auf der Basis des Rechts bietet der Internationale Strafgerichtshof, an dessen Zustandekommen die deutsche Regierung ihren Anteil hat, ein positives Beispiel. Er steht für die fortschrittlichen Tendenzen im Völkerrecht, die der Verteidigung der Menschenrechte mehr Nachdruck verleihen wollen, und wirkt kraft seiner Existenz als Institution gegen die Menschenrechtsdemagogie, die militärischen Interventionen aus machtpolitischem Kalkül zur internationalen Legitimation verhelfen soll. In ganz anderem Umfang als bislang geschehen könnte sich die Bundesrepublik der Aufgabe zuwenden, zur Krisenprävention, zur Streitschlichtung, zum Wiederaufbau vom Bürgerkrieg zerstörter Länder beizutragen, statt von „den deutschen Interessen am Hindukusch“ zu schwadronieren. Sie könnte sich nachdrücklicher als bislang geschehen, für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge einsetzen, die „internationale Regime“ im Umweltbereich etablieren. Sie könnte den Standards des Internationalen Arbeitsamts zu mehr Achtung verhelfen. Sie könnte, sie könnte …
Stattdessen geht es jetzt um „den ständigen Sitz“, die veröffentlichte Meinung hallt wider von Hintertreppengeschichten, mit welchen Kandidatenländern die Bundesrepublik ein Abkommen zur wechselseitigen Unterstützung für dieses hehre Ziel abgeschlossen hat. Substanzlose machtpolitische Kalküle statt einer Reflexion darüber, wozu die ganze Reform des Sicherheitsrats und der UN-Strukturen eigentlich gut sein, was ihr Ziel sein soll: Gemessen an dem auftrumpfenden Gestus des „Wir sind wieder wer“ kann man fast froh sein, dass es Deutschland ergehen wird wie jenem Ersatzspieler, der sich warm läuft, ohne je aufgestellt zu werden.
CHRISTIAN SEMLER