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Archiv-Artikel

In der Nähe von Lager Nr. 22

aus Seoul und Kaishantun GEORG BLUME

Die Karte des „Gefängnisses Nr. 22“ findet sich in Ahn Myung Chuls Buch auf Seite 150, doch nur mit koreanischer Legende. Jetzt zeichnet der Autor sie noch einmal: Ein Hexagon, ähnlich der Form Frankreichs, stellt die Lagergrenzen dar. In seiner Mitte liegt das Hauptquartier Haengjong, darüber ein Bergbaugebiet, ganz im Norden der Berg Bang Han Ryeong mit einer Höhe von 948 Metern. Unweit des Bergs fließt der Tumen-Fluss. Hier verläuft die Grenze zu China. Hier soll es liegen, das mutmaßlich größte Straflager Nordkoreas.

Ahn – Mitte dreißig, im grauen Dreiteiler mit straff angezogener Krawatte – arbeitet akribisch. Alles ist genau bedacht: jeder Grenzstrich, jeder Ortspunkt, jede Höhenangabe. Niemand außerhalb der Lagerzäune kann ihm das nachmachen. Dabei lebt Ahn heute als gewöhnlicher Bankangestellter in einem Vorort der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Doch von 1990 bis 1994, war Ahn Lkw-Fahrer im Gefängnis Nr. 22. Bis heute ist er der einzige Zeitzeuge außerhalb des abgeschlossenen Nordkorea, der das Lager von innen gesehen hat.

Einige Tage später hält der Vorsteher einer der wenigen gut befahrbaren Grenzstationen zwischen China und Nordkorea Ahns Karte in der Hand. Der Offizielle nennt sich Xue Ling* und will wissen, wohin die Reise hingeht. Xue hat ein Recht darauf, das zu erfahren. In dem Grenzstädtchen Kaishantun im äußersten Nordosten Chinas ist er zwar nicht die wichtigste Amtsperson, wohl aber die größte Autorität.

Der Grenzer weiß vom Lager

Der Grenzvorsteher trägt einen eleganten Herrenanzug unter der schwarzen Uniformjacke, an seinem linken Handgelenk baumeln eine goldene Armbanduhr und eine schwarze Ledertasche. Er fährt einen silbernen Toyota-Jeep. Sein ausgreifender Schritt lässt weiße Herrensocken aufscheinen. Im Gespräch am Mittagstisch erweist sich Xue als Kenner Nordkoreas. Die Hälfte seiner Verwandtschaft lebt dort, er selbst ist Angehöriger der koreanischen Minderheit in China. Zudem führt er neben seinem Amt eine Transportfirma, die chinesische Ware ins Nachbarland fährt: Waschmittel, Kosmetik und Batterien zählen zu den am häufigsten gelieferten Produkten. Doch das Geschäft läuft schlecht. „Die Märkte drüben sind voll“, sagt Xue. „Aber die Leute haben kein Geld, etwas zu kaufen.“ Dann richtet er seinen Blick wieder auf Ahns Karte.

„Für etwas Geld bringen dich meine Leute rüber“, schlägt der Grenzvorsteher vor. Dabei zeigt er auf eine nahe Brücke über den Tumen-Fluss. Der Tumen trennt China und Nordkorea auf einer Strecke von fast 300 Kilometern vom Japanischen Meer bis ins Gebirge. In Kaishantun stehen auf der anderen Seite des Flusses nur wenige Häuser. Hinter ihnen erhebt sich ein einzelner Gipfel.

Xue klimpert mit seiner Armbanduhr. „Das ist der Berg, der hier eingezeichnet ist. 948 Meter hoch. Hinter ihm liegt das Lager“, sagt er. „Wollen wir hinfahren?“ Es wäre eine Sensationsstory, aber es ist zu gefährlich.

Xues Vorschlag hilft dennoch weiter. Er weist darauf hin, dass es Nr. 22 heute noch gibt und nicht für jeden unerreichbar ist. Über das Geschehen hinter den Lagerzäunen aber weiß auch der Grenzvorsteher nichts: „Wir treffen drüben auf Soldaten, die entlang der Grenze in Lauerstellung liegen, um Flüchtlinge abzufangen“, berichtet er. „Sie sagen, dass Gefangene sich bei ihnen in Lebensgefahr befinden. Vielleicht meinen sie damit die Lagerhaft.“

So beginnt in Kaishantun die Spurensuche nach Kim Jong Ils Gulag. Sie führt entlang des Tumen von der Flussebene in die Berge in einen abgelegenen, dünn besiedelten Teil des chinesisch-nordkoreanischen Grenzgebiets. Die Richtung weist die von Ahn gefertige Karte, denn andere sind nicht erhältlich. Die Militärs beider Seiten behalten sie für sich.

Ohne die Hilfe des ehemaligen Lagerfahrers wäre die Reise ins Grenzgebiet sinnlos gewesen. In Seoul empfängt Ahn Leute, die mit ihm über seine Vergangenheit reden wollen, im fünften Stock eines heruntergekommenen Bürogebäudes. Hier logiert die „Bürgerallianz für Menschenrechte in Nordkorea“ unter Leitung des Pastors Benjamin H. Yoon, der über 20 Jahre der Sektion von amnesty international in Südkorea vorstand, bevor er 1996 die Bürgerallianz gründete. Seither sammelt Yoon Flüchtlingsberichte aus Nordkorea. Weil Ahn sein wichtigster Zeuge ist, wacht Yoon wie ein guter Vater über ihn. Der grauhaarige Mann führt Vorgespräche mit jedem, der Ahn befragen will. „Auf Pressekonferenzen wurden ihm früher Lügen vorgeworfen. Deshalb wollte er lange Zeit nicht mehr über seine Erfahrungen sprechen“, sagt Yoon. Nicht mal Ahns Nachbarn und Kollegen wüssten von seiner Vergangenheit.

Yoon und Ahn sind ein ungleiches Paar. Der eine mehr Philosoph als Historiker, der andere mehr Tüftler als Geschichtenerzähler. Doch gemeinsam ist ihnen die Anstrengung, nur genau so viel über das Lagerwesen in Nordkorea zu berichten, wie sie belegen können.

Laut Ahn befanden sich zu seiner Zeit etwa 50.000 Gefangene im Gefängnis Nr. 22. Südkoreas Geheimdienst spricht von insgesamt 210.000 politischen Gefangenen in Nordkorea, die sich auf fünf Lager verteilen. Yoon gibt zu bedenken, dass dies nur Schätzungen südkoreanischer Beamter seien, für die es keine handfesten Beweise gebe.

Taekwondo-Übung mit Häftlingen

Auch für Ahns Erzählungen fehlen Beweisstücke. Er verfügt lediglich über einige Satellitenfotos der US-Firma Digital Globe, die das Lager bis zu den Einzelgebäuden hin genau abbilden. Detailliert erklärt er anhand eines Bildes die Funktion jedes Hauses und jeder Halle im Hauptquartier Haengjong. Dann zeigt er ein Bild des nördlich gelegenen Bergbaugebiets: „Hier war das Dynamitdepot. Einmal musste ich sechs Gefangene zum Depot bringen, weil der Depotwärter Taekwondo üben wollte. Er schlug auf die Gefangenen ein, bis sie blutüberströmt im Sand lagen.“ Er berichtet aus seiner Anfangszeit im Lager von täglichen Hinrichtungen, denen alle Gefangenen beiwohnen mussten. Später hätten die Hinrichtungen heimlich in der Nacht stattgefunden.

Folgt man Ahn, war der Tod im Lager allgegenwärtig: Unterernährung, Schwerstarbeit und der Mangel an medizinischer Versorgung forderten täglich Opfer. Ahn berichtet, dass die Gefangenen nur selten wussten, warum sie interniert worden waren. Niemandem wurde vorher ein Prozess gemacht.

Ahn hat seine Geschichte außer in seinem Buch auch 1998 vor einem Komitee des US-Kongresses dargelegt. Er gilt seither als wichtigster Zeuge des nordkoreanischen Gulag überhaupt, weil er, sagt Yoon, die Systematik des Lagerwesens genauer beschreibe als andere. Doch welchen Wert besitzen seine Aussagen heute noch? Yoon räumt ein, dass alle im Ausland verfügbaren Zeugenberichte vom Lagerterror aus der ersten Hälfte der Neunzigerjahre stammen. An der schwierigen Beweislage ändern auch Satellitenfotos nichts, die nur Wald, Felder und Gebäude zeigen.

Erst vor diesem Hintergrund bekommt die Spurensuche nach dem Gefängnis Nr. 22 entlang der chinesisch-nordkoreanischen Grenze ihre Bedeutung. Jedes neue Indiz, das Hinweise auf die Existenz der Lager gibt, ist hier heute wertvoll. Denn der Weltöffentlichkeit darf es nicht reichen, wenn zehn Jahre alte Zeugenberichte mit neueren Angaben des südkoreanischen und des US-Geheimdienstes verknüpft werden, um die Fortsetzug des Lagerterrors als bewiesen zu betrachten. Nichts anders taten kürzlich das angesehene Hongkonger Magazin Far Eastern Economic Review und der US-Sender NBC. Dabei zeigt die Diskussion um Massenvernichtungswaffen im Irak, welche politischen Fallen Anklagen aufgrund alter Zeugenaussagen und Geheimdienstberichte der Öffentlichkeit stellen können.

Um der Sache weiterzuhelfen, markiert Ahn auf der Karte seinen Fluchtweg über den Tumen. Das Lager umfasst nach seinen Erinnerungen ein Gelände von etwa 40 mal 60 Kilometern. Ahns Fluchtweg markiert die Stelle, an der das Lager China am nächsten kommt. Zwei Dörfer liegen hier: Gampjeong auf nordkoreanischer und Daesan auf chinesicher Seite.

Von Kaishantan führt eine schmale Bergstraße an den immer steiler werdenden Hängen des Tumen in Richtung Daesan. Von hier bis zum vermuteten Lagerzaun sind es weniger als fünf Kilometer Luftlinie. Der Weg öffnet weite Blicke über den Tumen auf die Hänge des Bang Han Ryeong, dessen Gipfel auf Ahns Karte die nördlichste Spitze des Lagers markiert. Als die Straße wieder zum Fluss hinabführt, erscheint auf der anderen Uferseite Gampjeong.

Plötzlich glaubt man, das echte Nordkorea vor Augen zu haben: säuberlich angelegte Häuserreihen, in denen kein Schornstein über den anderen ragt, werden von einem weithin leuchtenden Heldengemälde Kim Jong Ils dominiert. Auf den ersten Blick gleicht Gampjeong einer kommunistischen Musterkommune. Viele Menschen im Dorf sind unterwegs, hier und da wird ein Schwein durch die Gassen getrieben, man hört Stimmen, am Fluss waschen Frauen Wäsche. Nach einer Weile fällt die Ruhe auf: Kein Fahrzeug brummt, keine Maschine rattert. Später am Abend gehen in Gampjeong keine Lichter an.

„Früher ging es uns genauso wie denen da drüben. Die machen dort noch alles zusammen“, sagt etwas weiter flussaufwärts der Bauer Piao Ri aus Daesan. Das Dorf liegt versteckt in einer Flussbiegung – ein guter Zufluchtsort für Flüchtlinge vom anderen Ufer.

Der Bauer Piao – Mitte vierzig, alter Arbeitsanzug – ist es gewohnt, dass es nachts bei ihm an die Tür klopft. Manchmal sind es nordkoreanische Flüchtlinge, die ein Versteck suchen. Manchmal Bauern vom anderen Ufer, die um Lebensmittel betteln. „Sieben Kühe sind im Dorf in den letzten Jahren verloren gegangen. Die Diebe haben sie durch den Fluss entführt“, klagt Piao.

Schüsse auf der anderen Seite

Er ist Mitglied des Dorfrats und wie alle in Daesan von Abstammung Koreaner. Vor 20 Jahren, als die Kommunen in China abgeschafft wurden, hat er sich sein eigenes Haus gebaut: im alten koreanischen Bauernstil mit dem Ofen unter dem Fußboden. Seinen relativen Reichtum, drei Kühe, weiß er zu schätzen: „Wir haben genug, um etwas abzugeben. Sonst wären wir hier nicht in China, sondern in Nordkorea“, sagt Piao. Nur zögerlich räumt er ein, dass er manchem Flüchtling Schutz geboten hat.

Einmal wurde er für seine Hilfeleistung von der chinesischen Grenzpolizei abgeführt. Doch das ist schon Jahre her: „Für etwas Geld werden die Leute auf unserer Seite durchgelassen“, meint Piao. Drüben sei das anders: „Da hört man immer wieder Schüsse.“ Unter ähnlichen Umständen sind nach Angaben von Hilfsorganisationen annähernd 300.000 Nordkoreaner in den letzten Jahren nach China geflüchtet.

Von Piaos Haustür geht man nur wenige Schritte durchs Dorf bis zu der Furt, durch die auch Ahn Myung Chul in Freiheit gelangt sein muss. Drüben verlaufen Eisenbahnschienen, über die zu Zeiten, als die nordkoreanische Wirtschaft noch auf vollen Touren lief, alle halbe Stunde eine Dampflok rappelte. Heute fährt noch zweimal in der Woche ein Zug. Doch das Gefängnis Nr. 22 kann man auch von hier nicht sehen – nur die aufgeräumte Kommune Gampjeong.

„Ich habe von dem Lager gehört, seit ich ein Kind war. Alle reden davon“, erzählt der Bauer Piao. „Früher hieß es Nr. 11, heute Nr. 22. Es soll das größte Gefängnis in Nordkorea sein. Man weiß nicht, wie die Menschen dort behandelt werden. Man weiß nur, dass sie das Gefängnis nie wieder verlassen.“ Piaos wirkt nicht betroffen, für Mitleid besitze er selbst zu wenig, sagt er. Doch an seinem Glauben, dass das berüchtigte Lager just hinter dem nächsten Bergkamm beginnt, gibt es keinen Zweifel. Das ist ein weiteres Indiz für das Fortbestehen des Gefängnisses Nr. 22.

Nun kann man in Südkorea heute mit vielen Flüchtlingen aus Nordkorea sprechen. Ihre Geschichten sind schrecklich. Alle erzählen von quälender Hungersnot, fast jeder berichtet von grausamer Gefangenschaft, stets kommt irgendwann die Rede auf die Lager für politische Gefangene. Der Reporter führt in Seoul ein halbes Dutzend solcher Interviews. Doch zeigt sich dabei auch, wie schwer es bei diesen Gesprächen ist, tatsächliche Erfahrungen von kolportierten Vorwürfen zu trennen. Die Flüchtlinge haben eine Odyssee durchlebt: Sie mussten sich im chinesischen Untergrund zumeist christlichen Hilfsorganisationen anschließen und deren Glauben folgen. Nach der Ankunft in Seoul erwarteten sie wochenlange Schulungen durch die südkoreanische Regierung. All das hat seinen Sinn für die Integration der Betroffenen. Aber es erleichtert im Nachhinein selten die Wahrheitsfindung.

Einen ganz anderen Eindruck hinterlässt das Gespräch mit Kim Young Hoe*, einer 55-jährigen Mathematiklehrerin aus Nordhamgyong, deren Heimatdorf 50 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt liegt. Kim ist erst vor wenigen Tagen über Gampjeong und Daesan nach China geflüchtet. Zum Gespräch ist sie nur an einem Ort weitab ihres Unterschlupfs in der Nähe von Kaishantun bereit. So trifft man sie in einem Hotel der nahen Stadt Yanji.

Kim durchwatete den Tumen „allein ganz langsam im Dunkeln“, sagt sie, es gab „viele Wachen“. Sie entsinnt sich genau der Inschrift des orangefarbenen Heldengemäldes in Gampjeong: „Kim Jong Il – Sonne im 21. Jahrhundert“. Noch hat sie keine Distanz zur Propaganda: „Ich habe immer an das System geglaubt und nie gedacht, dass etwas schief gehen würde“, sagt Kim.

Die Flucht der Lehrerin

Die ehemalige Lehrerin trägt eine grüne Strickjacke und einen gepflegten Kurzhaarschnitt. Damit wirkt sie wie eine gut situierte ältere Dame. Doch das, sagt sie, sei nur der Bauernfamilie zu verdanken, die sie seit der Flucht aufgenommen habe. „Vor ein paar Tagen trug ich noch Lumpen und aß Kräuter und Blättersuppe wie alle in meinem Dorf.“

Für Kim war es bereits die zweite Flucht. Die erste wagte sie vor einem Jahr, doch schon nach wenigen Wochen in China spürte die Polizei sie auf und transportierte sie zurück über die Grenze. Hier liegt das größte Problem der Flüchtlinge: Aufgrund eines Ausweisungsabkommen zwischen Peking und Pjöngjang werden sie in China nicht anerkannt. Zwar hat sich Peking entschlossen, das Gros der Flüchtlinge auf seinem Boden zu tolerieren. Doch wenn es öffentlichen Ärger gibt, wie bei den wiederholten Fluchtversuchen von Nordkoreanern über ausländische Botschaften in Peking, schlägt die chinesische Polizei sofort zurück: meistens mit Razzien im Grenzgebiet. Einer solchen fiel Kim im Oktober 2002 zum Opfer. Daraufhin musste sie 40 Tage in nordkoreanischer Haft verbringen. „Vom 21. Oktober bis 2. Dezember dreimal am Tag eine halbe Tasse Nudelsuppe.“ Dabei erging es ihr als älterer Frau noch leidlich. Tagsüber arbeitete sie während der Haft im Straßenbau. Jüngere Frauen wurden regelmäßig mit der Holzstange geschlagen und mussten 20 Stunden am Tag schwere Strafarbeiten verrichten.

Während der Haftzeit hörte Kim das erste Mal vom Gefängnis Nr. 22. „Ich sprach mit einer Mitgefangenen, die sehr traurig aussah“, sagt sie. „Sie erzählte mir, dass sie zu viert in China gewesen seien, ihre Schwiegereltern, eine Schwägerin und sie, und vor einem Treffen mit einem südkoreanischen Verwandten festgenommen wurden. Weil die anderen drei mit dem Südkoreaner verwandt gewesen seien, seien sie nun im Gefängnis Nr. 22 gelandet, und nur sie sei in ein normales Gefängnis gekommen.“ Damals verstand Kim die Bedeutung der Geschichte nicht. Heute weiß sie: Besonders hart werden nach Nordkorea zurückgeführte Flüchtlinge bestraft, wenn sie Kontakt zu Ausländern oder Südkoreanern hatten. Weshalb es westlichen Journalisten auferlegt ist, Gespräche mit Flüchtlingen in der Region nur unter größtmöglichen Vorsichtsmaßnahmen zu führen.

Das dritte Indiz für Nr. 22

Kim aber liefert somit ein drittes Indiz für den Fortbestand des Lagers Nr. 22. Erfolgreich im Sinne von beweiskräftig ist die Spurensuche damit noch nicht. Sie weist jedoch in eine Richtung, in die Pastor Yoon in Seoul schon seit langem denkt: „Die grundsätzliche Existenz der Lager für politisch Gefangene steht heute nicht mehr zur Debatte.“

Ähnlich sieht es auch die Regierung in Washington: „Während Kim Jong Il wie ein König lebt, hält er hunderttausende seines Volkes in Lagern gefangen“, klagt John Bolton, Vizeaußenminister für Fragen der Abrüstung und der internationalen Sicherheit im US-Außenministerium. Doch mit seinen Worten setzt auch die Propaganda ein, die Nordkorea zur „Achse des Bösen“ rechnet. Von hunderttausenden Lagergefangenen würde Pastor Yoon jedenfalls nicht sprechen. Für eine solche Zahl, auch wenn sie denkbar ist, fehlen Menschenrechtsorganisationen die Beweise.

Wie politisch manipulierbar die Aussagen nordkoreanischer Flüchtlinge sind, demonstriert die Mathematiklehrerin Kim. Sie hat bei ihrer Flucht für ihr Alter Erstaunliches geleistet, ist geistig voll präsent. Aber ein Mann namens George W. Bush ist ihr nicht bekannt. „Ich weiß von Amerika nur, dass es unser Feind ist“, gesteht Kim. Damit ist sie in ihrem Unwissen, gerade aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen, für jegliche Einflussnahme offen. Ihre Lage im Westen politisch auszunützen, um die nordkoreanische Diktatur in Bedrängnis zu bringen, birgt deshalb neben der berechtigten und notwendigen moralischen Empörung auch Risiken – allen voran bei einer Wahrheitsfindung, deren Vernachlässigung hier einen Krieg heraufbeschwören kann.

* Name von der Redaktion geändert