Der produktive Dualismus

Die SPD-Spitze will den „demokratischen Sozialismus“ aus dem Programm entfernen. Wenn das geschähe, wäre es endgültig vorbei mit Chancengleichheit und Solidarität

Es geht um kollektives Handeln, mit dem Ziel, die Lage jedes Einzelnenzu verbessern

Eigentlich könnte man mit einem erleichterten „Na endlich!“ auf die Nachricht reagieren, dass der Vorsitzende der SPD wie sein Generalsekretär dem Begriff „demokratischer Sozialismus“ jetzt den programmatischen Garaus machen wollen. Ist es nicht augenfällig, dass dieser Ismus wie ein alter, tattriger Großonkel im Ideenhaushalt der sozialdemokratischen Familie herumsteht, eine peinliche Figur, die die stets gleichen Geschichten brabbelt und die ins Altersheim abzuschieben bislang nur ein Rest von Pietät verhindert hat?

Die Befürworter der Streichungsaktion sind keineswegs auf die Macher an der Parteispitze beschränkt, sie können Unterstützung auch in der Grundwertekommission der SPD mobilisieren, die sich bisher in ihrer „Handreichung“ zum Thema damit begnügt hat, Gründe und Gegengründe der Streichung zusammenzufassen. Selbst Thomas Meyer, ethischer Sozialdemokrat und seit jeher Definitionskünstler in Sachen „demokratischer Sozialismus“ möchte jetzt lieber von „sozialer Demokratie“ sprechen. Das Streichungslager erhofft sich von der Entfernung des Begriffs die Befreiung aus einem alten Dilemma der SPD. Meyer spricht von einem „sterilen Dualismus“ zwischen radikaler Programmrhetorik und perspektivlosem Praktizismus als deutscher sozialdemoratischer Dauerkrankheit.

Auch der Einwand, man beraube die Sozialdemokraten einer historisch verankerten Symbolsprache, lässt die Abschaffer kalt. Schließlich sind die roten Fahnen, das Genossen-Du und ähnliche anheimelnde Zutaten passé. Symbole müssten ein Wirgefühl ausdrücken, eine allseits geteilte Identität. An die aber sei im Zuge des Prozesses der sozialen Differenzierung und Individualisierung nicht mehr zu denken.

Um zu verstehen, was „demokratischer Sozialismus“ in der SPD-Programmatik eigentlich bedeutet, empfiehlt sich ein kurzer Blick rückwärts. Ursprünglich war das ein Abgrenzungsbegriff gegenüber den Bolschewiki und deren Beharren auf dem Klassencharakter jeder Demokratie und auf der Notwendigkeit der proletarischen Diktatur als unumschränkter Klassenherrschaft. Aber auch der SPD galt Sozialismus als ein Jenseits des Kapitalismus und des Profitprinzips. Die Wende des Godesberger Programms von 1959 strich dieses „Jenseits“ und ersetzte es durch einen Wertekanon, der eine Richtschnur des Handelns abgeben sollte. „Demokratischer Sozialismus“ wurde jetzt zur permanten Aufgabe, menschenwürdige Zustände in der Gesellschaft herzustellen. Die Ähnlichkeit mit dem Wertekosmos des Bonner Grundgesetzes ist augenfällig. Ebenso klar ist aber, dass das, was an Öffnung gewonnen, an Unterscheidungskraft eingebüßt wurde.

Natürlich kann man sich darüber mokieren, in welch umstandsloser Weise die sich vielfach widersprechenden Postulate von Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Zeichen einer gerechten Gesellschaft damals harmonisiert wurden. Auch fehlte es an einer Idee, wie in einer Klassengesellschaft und bei grundsätzlicher Bejahung der kapitalistischen Produktionsweise diese vielen schönen Dinge eigentlich durchgesetzt werden könnten. Immerhin enthielt aber der „demokratische Sozialismus“ von Bad Godesberg zwei handfeste, ausbaufähige Elemente, die über wohlfeile Patentrezepte à la „So viel Markt wie möglich, so viel Planung wie nötig“ hinausgingen. Das eine betraf die Idee, dass Demokratie sich auch auf den hermetisch abgeschotteten Bereich der Wirtschaft erstrecken müsse, also die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung. Das andere galt einer möglichen staatlichen Intervention in der ökonomischen Makrosphäre, damals im Zeichen einer „Globalsteuerung“, mit deren Hilfe man der ersten Nachkriegswirtschaftskrise zu Leibe rücken wollte. Den damaligen Überlegungen haftete das Pathos der Modernität und der technokratischen Meisterung ökonomischer Probleme an. Die Planer hielten sich für die besseren Monopolkapitalisten. Zieht man den ganzen Keynesianismus ab, so bleibt die programmatische Forderung nach einer korrigierenden und kontrollierenden Rolle des Staates im Bereich der Ökonomie.

Das dreißig Jahre später verabschiedete Berliner Programm verschrieb sich der ökologischen Umgestaltung der Industriegesellschaft. Das Programm rückte das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie in den Mittelpunkt und passte den Wertekanon des „demokratischen Sozialismus“ an die postmateriellen Haltungen der Zeit an. Dennoch verlor auch im Berliner Programm der „demokratische Sozialismus“ nicht das überschießende Element, das auf gesellschaftliche Demokratisierung und auf die Kontrolle von Wirtschaftsabläufen zielt. Es trifft eben nicht zu, dass zwischen der programmatischen Wertorientierung von Berlin oder Godesberg und einer möglichen Orientierung einer Politik sagen wir mittlerer Reichweite kein Zusammenhang bestanden hätte, wie Thomas Meyer mit seiner Rede vom „sterilen Dualismus“ suggeriert.

Der „demokratische Sozialismus“ ist gewiss eine Anhäufung von Postulaten ohne innere Stringenz. Aber er enthält eine dichte Konzentration von Gerechtigkeitsvorstellungen, die zu entfalten wären, was freilich die Beibehaltung des Begriffs voraussetzt. „Demokratischer Sozialismus“ hat die Vorstellung der Solidarität zum Kern. Es geht hier zuallererst um die Gesellschaft, um kollektives Handeln, mit dem Ziel, die Lage jedes Einzelnen zu verbessern – und davon abgeleitet um staatsvermitteltes Handeln. Nach dieser Vorstellung agiert der Staat nicht als Agentur der Fürsorge, sondern kräftigt die Institutionen kollektiver Solidarität. Ohne sie wären die Postulate individueller Freiheit und Selbstbestimmung gänzlich substanzlos.

Es bleibt die Forderung nach einer kontrollierenden Rolle des Staates in der Ökonomie

Der Angriff auf den Begriff „demokratischer Sozialismus“ im Zeichen des „dritten Weges“ will gerade dieses Moment der Solidarität kraft kollektiver Aktion tilgen. Der Parteivorsitzende will die „Chancen auf Teilhabe“ vor allem bei Bildung und Arbeit „neu beschreiben und wegkommen von der klassischen Verteilung hin zum Einräumen von Chancen, die dann aber auch von den Betroffenen selbstbewusst ergriffen werden müssen“. Woher nur soll Selbstbewusstsein kommen, vor allem bei der Masse der zunehmend prekär Beschäftigten und Arbeitslosen? Was ist andererseits von dem Selbstbewusstsein geblieben, von dem die Champions der New Economy nur so strotzten?

Ironischerweise fällt der Vorstoß der Abschaffer in der SPD mit einem sich ändernden Klima bei Teilen der europäischen Sozialdemokratie zusammen. Ausgerechnet Anthony Giddens, der Pfadfinder des „dritten Weges“, Kritiker der überkommenen Form des Wohlfahrtsstaates und Stichwortgeber der „neuen Sozialdemokraten“, will, dass jetzt neu über die zentrale Rolle der „öffentlichen Güter“ und eine stärkere Rolle des Staates auf ökonomisch-sozialem Terrain nachgedacht wird. Vielleicht fördert und fordert diese Aufforderung ja eine Kursberichtigung bei den hiesigen Solidaritäts-Liquidatoren. CHRISTIAN SEMLER