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Archiv-Artikel

Die Lücke zwischen Schule und Uni

Immer mehr Universitäten bieten Schülern an, auf Probe zu studieren und sogar Leistungsscheine zu erwerben. Auch Berlins Mathe-Spezialklassen ebnen den Weg in die Hochschulen. Ab der elften Klasse nehmen ihre Schüler Stoffe aus dem universitären Curriculum dran – und werden individuell gefördert

„Schüler schneiden an der Universität überdurchschnittlich gut ab“

VON JULIANE GRINGER

Die Unendlichkeit hat es ihm angetan. Daniel Schliebner will sie erforschen, er will herausfinden, welche Bedeutung die Unendlichkeit für Grenzwertbestimmungen in der Mathematik hat. Dafür wälzt er Fachbücher, beschreibt hunderte Seiten Karopapier oder recherchiert in der Unibibliothek. Obwohl der Mathefreak da streng genommen noch nichts verloren hat – Daniel ist erst 18 und besucht die Oberstufe eines Gymnasiums.

Dennoch kann Daniel bereits die ersten Scheine fürs Mathestudium erwerben. Denn er gehört einem Projekt an, das bundesweit schwer in Mode kommt: die Öffnung der Hochschulen für Schüler. „Die einzelnen Abschnitte einer Bildungslaufbahn dürfen nicht mehr als Bruch empfunden werden – so wie das heute oft noch der Fall ist“, begründet Doris Ahnen (SPD), Bildungsministerin in Rheinland-Pfalz. Ahnen ist Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die gerade einen formellen Beschluss zum frühen Übergang auf die Hochschule gefasst hat. Die Scheine, die Schüler in der Freizeit an Hochschulen erwerben, sollen künftig bundesweit anerkannt werden.

Was die meisten Bundesländer erst noch in ihre Gesetze schreiben müssen, wird an Daniel Schliebners Schule längst praktiziert. Die Andreas-Oberschule in Berlin-Friedrichshain bereitet Schüler zielstrebig auf die Universität vor. In einer Mathe-Spezialklasse unterrichten Dozenten der Humboldt-Universität Berlin gemeinsam mit Lehrern. Die Curricula von Schule und Uni sind aufeinander abgestimmt. Erreicht Daniel auf dem Abi-Zeugnis sehr gute Leistungen, bekommt er zwei Scheine ausgestellt – die ihm das erste Semester Mathematik ersparen.

Vielen Schülern fällt der Wechsel von der Schule zur Universität schwer. Das hat nach Meinung von Fachleuten vor allem damit zu tun, dass an der Uni eigenständiges Arbeiten gefragt ist – in den Schulen aber immer noch das akribische Abarbeiten der staatlichen Lehrpläne dominiert. Ob die Studis überhaupt das für sie richtige Studienfach gewählt haben, merken sie oft erst nach ein paar Semestern. Jeder sechste Student wechselt das Fach, ein Viertel der Studierenden verlässt ganz ohne Abschluss die Hochschule.

Eine der ersten Hochschulen, die Schülern das Studium nebenbei ermöglichte, war die Universität Köln. Seit dem Wintersemester 2000/20001 kann es dort passieren, dass ein Achtklässler einen Chemie-Schein oder ein Schüler seine Abitur-Prüfungen und das Vordiplom der Uni gleichzeitig ablegt.

Standorte wie Aachen, Düsseldorf, Frankfurt und Kiel haben vergleichbare Projekte gestartet. „Etwa 15 Hochschulen machen mittlerweile bundesweit mit“, erklärt Ulrich Halbritter, Betreuer von „Schüler an der Universität“ in Köln.

Auch die Universität Hannover ist dabei. Dort sitzen beim „Juniorstudium actio-PLUS“ neben Schülern auch Grundwehrdienstleistende, Zivis und Azubis im Hörsaal. „Die Junioren schneiden bei den Uni-Klausuren überdurchschnittlich gut ab“, sagt Iris Anja Lieske, die das Projekt koordiniert. „In Physik ging vergangenes Jahr ein Schüler mit einer glatten 1,0 nach Hause.“

Anja Lieske sieht in der großen Lücke zwischen Schule und Studium, die durch Wehr- oder Zivildienst, Ausbildung oder Freiwilliges soziales Jahr entsteht, den Grund für die Probleme vieler Studenten mit dem Lernen an der Uni. „Schulstoff gerät leicht in Vergessenheit. Die jungen Leute verlieren schnell das Interesse“, sagt sie.

Das Oberstufenkolleg Nordrhein-Westfalen an der Universität Bielefeld hat bereits vor 30 Jahren begonnen, die Lücke zu schließen. Nach dem Vorbild amerikanischer Colleges dürfen die Schüler zwei Studienfächer der Uni wählen. Aus 25 Angeboten suchen sich die Kollegiaten ihre Favoriten – darunter Soziologie, Psychologie, Frauenstudien, Jura und Wirtschaft. In ihrem letzten Jahr dürfen sie dann direkt an der Universität Bielefeld Kurse belegen, die gleich neben dem Oberstufenkolleg liegt. Schüler aus ganz Deutschland bewerben sich für diesen Weg zum Abitur. „Wir achten bei der Auswahl auf eine heterogene Schülerschaft“, erklärt Josef Keuffer, wissenschaftlicher Leiter des Oberstufenkollegs. „Eine attestierte ‚Begabung‘ ist für uns nicht entscheidend und keinesfalls Bedingung.“

In den Mathematik-Spezialklassen Berlins verläuft der Übergang zur Uni meist reibungslos. Dabei studiert nicht jeder Absolvent später Mathematik. Die 18-jährige Inka Eschke etwa setzt von vornherein auf Medizin. „Mathekenntnisse können da ja auch nicht schaden“, meint sie. „Außerdem lernt man hier logisch denken und eigenständig arbeiten.“ Approximation und Taylor-Polynom – davon hören ihre Mitschüler in normalen Mathekursen auch, aber Inka studiert sie richtig.

„Schon die Hausaufgaben sind knifflig“, erklärt Constantin Krüger, ebenfalls einer der Spezialschüler. „Die enthalten oft neuen Stoff, den wir uns selbst erarbeiten sollen.“ Überfordert gefühlt habe sich Constantin selten. Eher unterfordert – im normalen Mathematikunterricht. „Das war langweilig“, erinnert er sich. Felix Wilamowski neben ihm kann das bestätigen. „Da werden die Standardaufgaben x-mal gerechnet. Ich war immer schneller fertig und genervt davon, warten zu müssen.“ Immer leicht fällt es dem 18-Jährigen in der Spezialklasse auch nicht. „Aber wir werden individuell gefördert“, so Felix. „Gerade am Anfang sind die Lehrer und Dozenten auf unsere persönlichen Schwächen eingegangen, die wir dann ausbügeln konnten.“ Die Berliner Spezialklassen für Mathecracks praktizieren damit bereits eine Didaktik, die nach der internationalen Schulstudie Pisa weltweit als mustergültig angesehen wird: die individuelle Förderung.

„Sobald die Schüler sich für selbstständiges Arbeiten und neue Denkweisen öffnen“, weiß der Mathematik-Didaktiker Jörg Kramer, „können sie sich ohne Probleme auch mit komplizierten mathematischen Problemen auseinander setzen“. Dafür müssen sie gar nicht hochbegabt im strengen Sinne sein. Kramer ist nicht irgendein Mathe-Professor der Humboldt-Uni. Er gehört dem Berliner Forschungszentrum „Mathematik für Schlüsseltechnologie“ an, einem Verbund weltweit führender Wissenschaftler. Er hat eine DDR-Tradition wieder ins Leben gerufen. Damals gab es an der Humboldt-Universität Abiturklassen mit Schwerpunkt Mathematik.

Die Jahrgänge der Spezialklassen sind unterschiedlich stark. Daniel sitzt mit nur vier Mitschülern im Unterricht. Das Netzwerk wendet sich jedes Jahr wieder in einem offenen Brief an Schulen mit der Aufforderung, begabte Schüler direkt anzusprechen. „In der Regel bekommen wir leider nur wenig Rückmeldungen“, so Dozentin Elke Warmuth, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mathematik-Institut der Humboldt-Uni. „Viele Lehrer wollen ihre guten Schüler nicht hergeben.“ Warmuth glaubt, dass alle Beteiligten vom aufwändigen Netzwerk-Projekt in Berlin profitieren, nicht nur die Schüler: „Für unsere Hochschullehrer ist es auch interessant, in den Schulbetrieb zu gehen. Sie bilden ja selbst auch Lehrer aus, und dort sind sie dem Schulalltag mal wieder ganz nah.“

Mit stichelnden, neidischen Mitschülern haben Daniel Schliebner und die anderen angeblich nicht zu kämpfen. „Die haben Respekt und finden das gut“, meint er. Daniel hat sich unterdessen schon höhere Ziele mit seinem Lieblingsthema gesteckt. Er wird sich mit der Unendlichkeit bewerben – beim Mathematikgruppenwettbewerb der Deutschen Forschungsgemeinschaft.