Depression und Routine

Kontrastprogramm in der Musikhalle: Philharmonia Orchestra London unter Christoph von Dohnanyi spielte – in wechselnder Qualität – Birtwistle und Beethoven

Beethovens Neunte durch intellektuell übergestülptes, überflüssiges Konzept entstellt

Es gibt Stücke, bei denen bereits nach wenigen Takten fast alles klar ist hinsichtlich ihres Gelingens oder Nicht-Gelingens. Ein Konzert mit Interpretationen dieser Art fand im Rahmen des Schleswig Holstein Musikfestivals in der Hamburger Musikhalle statt. Das Philharmonia Orchestra London gastierte unter Leitung des zukünftigen Chefs des NDR-Sinfonieorchesters, Christoph von Dohnanyi.

Auf dem Programm stand die vom ersten Ton an gelungene europäische Erstaufführung von Harrison Birtwistles The Shadows of Night, einem Stück, das sich fast eine halbe Stunde Zeit nimmt zum musikalischen Ausbreiten von Depression und Düsternis. Ein kompositorisch dichtes, hochrangiges Stück, das kompromisslos den einmal eingeschlagenen Weg beschreitet und dessen Darbietung weitaus gelungener war als die des folgenden Werks: Schon die ersten Takte der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens verdeutlichten wie im Brennglas Qualitäten und Mängel dieses Abends. Dirigent von Dohnanyi schien die vorliegende Musik nicht einfach zum Leben erwecken zu wollen, sondern wollte ihr eine eigene Vision geben. Wie eine einzige langsame Einleitung klang der ganze erste Satz. Und dann folgte, sozusagen als Entspannung, der schnelle zweite Satz. Dem schloss sich noch einmal ein vorbereitender langsamer Satz an, der seine Erfüllung in der Apotheose des Freude schöner Götterfunken-Finales findet. Eine unangemessene Verbindung jeweils zweier Sätze – des ersten und zweiten bzw. des dritten und vierten –, die dem Stück eine Struktur unterlegt, die ihm nicht innewohnt, hatte Beethoven doch alle vier Sätze als aufeinander aufbauend gedacht. So stellte sich für den Zuhörer die Frage, ob Beethovens Neunte eine solche intellektuell aufgestülpte Konzeption benötigt.

Abgesehen davon ließ das Engagement der Musiker beträchtlich zu wünschen übrig: Die unkonzentriert und schlecht intonierten ersten Töne des Stückes machten schlagartig klar, dass hier ein Orchester routiniert arbeitete, ohne sich wirklich auf Beethoven einzulassen. Da nutzte es auch nichts, dass man im Verlauf des Stückes merkte, welch technisch äußerst hohes Niveau das Orchester generell hat. Wenn aber all diese technisch vorzüglichen Musiker meinen, man könnte einem solchen Werk mit reiner Routine gerecht werden, dann haben sie sich getäuscht. Und wenn ein Dirigent meint, er müsste einem in sich so schlüssigen Werk wie Beethovens Neunter noch eine eigene Vision verpassen, dann kann dies nur funktionieren, wenn er zunächst einmal so viel wie möglich aus der Partitur herausholt.

REINALD HANKE