: Der König mit den drei Leben
In Berlin wird Völkerball gespielt – von echten Völkern. Am Oststrand werfen Chinesen Koreaner ab und Türken Kariben. Der Perfomancewissenschaftler Max Schuhmacher will den Wurfsport aus der Kinderspielecke holen
Der dicke Landtaler hat mitgespielt, der kleine Winnie, die schöne Sandra Schleghuber. Rainer mit der dicken Brille war ein begnadeter Fänger und vor dem großen Oliver hatten alle Gegner Angst. Die Schüler der 4c trafen sich beinahe jeden Nachmittag, um zu trainieren. Denn beim Sportfest zum Schuljahresende wurde das große Völkerballturnier zwischen den vier vierten Klassen der Grundschule ausgetragen. Wochenlang sahen die Eltern ihre Kinder erst wieder, kurz bevor es dunkel wurde. Denn die Klasse bereitete sich vor auf das große Turnier. Nach den Sommerferien gab es die Klasse nicht mehr, die einen waren auf dem Gymnasium, die anderen besuchten die Hauptschule. Beim Sportfest hatten sie den letzten großen gemeinsamen Auftritt – als Völkerballmannschaft. In der fünften Klasse hatten alle jede Menge neuer Klassenkameraden. Seit der fünften Klasse hat keiner mehr Völkerball gespielt.
Noch immer ist Völkerball eine der beliebtesten Schulsportarten. Fast jeder kennt die Regeln. Zwei Mannschaften stehen sich gegenüber. Jede Mannschaft wählt einen König, der hinter dem Feld der gegnerischen Mannschaft steht. Ziel ist es, die gegnerischen Spieler abzuwerfen. Sind alle vom Ball getroffen worden, muss der König ins Spielfeld. Der hat drei Leben. Wird er dreimal getroffen, hat seine Mannschaft verloren. Viel einfacher ist selbst Fußball nicht. Doch Völkerball gilt als reiner Kindersport, führt im großen Sportbetrieb ein Schattendasein.
Jetzt aber soll das Spiel herausgeholt werden aus der Kinderspielecke. Von Berlin aus soll es die Sportwelt erobern. Dort, wo sich sonst nur müde Körper in Liegestühlen räkeln, wurde eine Völkerballarena aus hunderten Kubikmetern Sand aufgeschüttet. Max Schumacher, ein umtriebiger Theatermann aus Berlin, hatte die Idee zum Völkerballevent auf dem Gelände des Oststrands, einer sandigen Freischankfläche hinter der East Side Gallery. Per Internet und Flyer hat er nach Mannschaften gesucht, genauer nach Völkern. Denn er hat das Spiel wörtlich genommen und die Teams nach ihrer ethnischen Herkunft aufgestellt. Am Freitag, dem zweiten Vorrundenspieltag der Berliner Völkerballmeisterschaft, spielten Chinesen gegen Koreaner und Türken gegen Kariben.
Sportliches Interesse hat ihn nicht unbedingt angetrieben. Er sieht das Ganze als Kulturevent. Schumacher beschäftigt sich viel mit interkulturellen Aktionsformen auf dem Theater und beobachtet mit diebischer Freude, wie sich die unterschiedlichen Mannschaften präsentieren. Die scheinbar ehrgeizlosen Chinesen, die am Ende ihre Gegner doch einlullen, die geschmeidigen Kariben, deren Bewegungen wie von einem Choreografen einstudiert wirken, die hektischen Koreaner und die Türken, zu deren Spiel das lautstarke Anblaffen und Aufmuntern der Mannschaftskameraden gehört. „Es geht hier nicht so ernst zu wie in den kommerzialisierten Sportarten“, merkt der studierte Performancewissenschaftler an.
Doch ohne Ehrgeiz funktioniert auch das spaßigste Sportereignis nicht. Wenn die Teams richtig zur Sache gingen, dann taute auch das Publikum auf. Schon um 18 Uhr zum Anpfiff der ersten Begegnung hatten sich mehr als 150 Zuschauer eingefunden. Die Stimmung ist gut an den Gestaden der Spree. Jan Schiele, auch er eigentlich Theatermacher, gibt den Stadionsprecher. Messerscharf analysiert er das Zusammenspiel der Chinesen. Gleichzeitig erfährt man von ihm, dass das chinesische Tsingtao-Bier nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wird, weil Tsingtao einst deutsche Kolonie war. Im Hintergrund läuft türkische Popmusik. Das Völkerballturnier soll auch die Trink-, Ess- und Musikkultur der diversen Völker vorstellen. Karibische Spezialitäten wurden verkauft und sogar koreanisches Bier konnte erstanden werden.
Spielertrauben, Diskussionen mit dem Schiedsrichter, Verhandlungen. Es geht um Sieg oder Niederlage. Die Spieler wirken verbissen. Ein Team verliert, fühlt sich ungerecht behandelt. Doch schon eine Sekunde nach Abpfiff lachen alle wieder.
Die 4c mit Sandra und Oliver hat seinerzeit den letzten Platz belegt beim Schulturnier. Dennoch erinnern sich alle gerne an das Spiel mit dem König.
ANDREAS RÜTTENAUER