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Archiv-Artikel

Paradisvogel Adé

Vergangenen Samstag flutete die 10. Reincarnation Parade die Hannoveraner City – mit 130.000 statt der erwarteten 300.000 Besucher. Trotzdem fahndete der NDR tapfer nach Barbusigen und ebenso tapfer hofft die Szene auf: Innovation

Paraden erfinden neue Berufe, einige Ich-AGs sind vorprogrammiert: „Bubble Direct“ oder „Trucky-Safe“ beispielsweise

aus Hannover JOHANNES KNOBLAUCH

Hannover 96 verschiebt sein Bundesligaspiel gegen Rostock auf den Mittwoch, die Geschäfte in der Innenstadt machen ab 16.00 Uhr keinen Umsatz mehr und die ganze City mutiert zum fleisch-gewordenen 5er BMW: tiefer gelegt mit Subwoofer. Die zehnte Reincarnation-Parade bombte sich am Samstag durch die Gehörgänge von Hannover, zeigt aber auch das Ende der Paraden-Stange an.

Veranstalter Klaus Ritgen hoffte auf 300.000 Teilnehmer tagsüber, gekommen sind nach Schätzungen der Polizei aber lediglich 130.000. Abends in den Clubs feierten um die 15.000 zahlende Gäste. Warum? Ritgen vermutet wirtschaftliche Ursachen: „Alle sparen wo es geht.“

Dabei ist die Teilnahme an der Parade nach wie vor kostenlos, es sei denn man möchte für ca. 65 Euro einen Platz auf einem LKW bezahlen, ohne Toilette an Bord. 21 LKWs gingen auf die Reise, vier weniger als letztes Jahr. Die Ausstattung von einem Jubel-Brummi kostet 5.000 bis 10.000 Euro, die nicht über die Kartenverkäufe finanziert werden können, so Ritgen. Die Parade steht eindeutig unter einem finanziellen Stern. Das allein ist nicht verwerflich, aber der Effekt ist die Entfernung von der eigentlichen Idee: einer großen Tanzveranstaltung gleichgesinnter Paradiesvögel. Dabei sind die exotischen Kostüme der ersten Paraden der Standardkollektion aus neonfarbenen Flokati-Stulpen und Netzhemden gewichen.

Immerhin sind die Paraden heute ein Paradebeispiel für das Erfinden neuer Berufe: Schaumdüsen-Lenker und LKW-Absperrungsband-Halter finden hier Beschäftigung. Da sind doch schon einige Ich-AGs vorprogrammiert: „Bubble Direct“ oder „Trucky-Safe“ beispielsweise.

Wer ist so unterwegs auf der Reincarnation? Einer der Techniker aus der Sportparkbühne dazu: „In keinem Backstage-Bereich gibt es so viel Fisch wie bei einer Techno-Parade“ Fisch ist im Veranstalterdeutsch alles, was nicht Künstler und Management ist: Vip-pes Volk, immer auf der Suche nach Exklusivität und dem kostenlosen Genuss.

Der große Techno-Trend ist vorüber: Das beweißt schon das NDR-Fernsehen, das zielsicher jugendliche Themen aufgreift, wenn der große Trend längst über den Zenith hinaus ist. Mit einer zweistündigen Live-Übertragung moderiert von den frischen „Hallo Niedersachsen“ Szene-Moderatoren Olaf Kaune und Sandra Rost wird die Parade vollständig zur Karnevalsveranstaltung: „Viele Lieder erkennen wir beiden alten Säcke hier auch schon wieder“ - „Na, der ist ja auch recht lecker“ - „Uii, die erste Barbusige“ - „Ja, aber ich glaube, unsere Kameramänner, die zieren sich noch ein bisschen“. Nicht lange allerdings.

Am Puls der Zeit auch die Reporter, die mal ganz locker live aus der Masse berichten: „Warum hast du Spaß hier?“ - „Ist total geil hier, einfach klasse“ - „Aha“. So hangelt man sich von einem Sparwitz zur nächsten anzüglichen Bemerkung, begleitet von den ausgedünnten Botschaften der nimmermüden Brüllwürfel auf den LKWs: „WICKED, WICKED, WO SIND EURE ARME, HANNOVER, ICH KANN EUCH NICHT HÖREN, WOLLT IHR MEHR SCHAUM, WAS IST LOOOOS HIIIER, IHR SEID ZU LEIIIIISE.“

Als neueres Problem macht der Reincarnation der Alkohol zu schaffen: Durch die süffigen Biermixgetränke und schicken Alkopops sind die Raver schon frühzeitig schwer angeschlagen. Der Jugendschutz bemängelte zudem die kostenlose Ausgabe von Alkohol an Jugendliche. 200 Raver wurden ärztlich behandelt, über 50 wurden in eine Klinik eingewiesen. Die Polizei beschlagnahmte über 130 Mal leichte Drogen, überwiegend Haschisch und Marihuana. Einem überwältigten Polizisten wurde der Dienstausweis geraubt.

Und was wird nun aus Techno? Raphael von den Discoboys, einer der Reincarnation-DJs der Technoszene, sagt: „Es fehlen die Innovationen. Viele Leute gehen in die Clubs und wollen das sehen, was sie bei MTV und VIVA gesehen haben. Die Leute gehen nicht mehr weg, um was zu entdecken. Aber das wird sich wieder ändern.“ Gleichzeitig wachsen die Genres zusammen: „Sven Väth legt inzwischen Platten auf, die wir auch aufgelegt haben, die Trennungen weichen auf“, so der Discoboy. Marusha vermutet, dass das Angebot an Musik einfach zu groß sei. Die nachwachsende Generation wisse nicht mehr, welche Musik gut und welche nur billig produziert ist.

„Parole ficken“ heißt es auf den Werbeaufklebern, die während der Reincarnation verteilt wurden. Und die einen hübschen Teil der 36 Tonnen Müll bildeten, die bis Sonntag früh von den Müllmännern entsorgt wurden.