wohl kein sommerwunder (10)
: FRANZA ZELLER erklärt, warum der Sommer in Berlin ruhig zu Ende gehen kann

Die Stadt starrt

Ein Superlativ-Sommer ist das. Rekordbrechend. So wird die Hitze nützlich für die Annalen, dabei ist sie es in Wirklichkeit doch für den Moment. Denn der Sommer 2003 ist besonders für Instant-Studien am Menschen geeignet. Kein Anorak umhüllt deren Körper, kein tief in die Stirn gezogener Schirm verhindert den Blick aufs Gesicht, kein Wollpullover über der Schulter schützt vor empfindlichem Luftzug. Im Gegenteil.

Dieser Sommer ist einer des Entblößens. Gepiercte Bauchnäbel sind freigelegt, behaarte Brüste wohl auch. Tätowierte Herzen pulsieren auf Muskeln in der Sonne, sommersprossige Oberarme bieten ihr Punktmuster dar. Lackierte Fußnägel glitzern in dünnen Sandalen, schwarze Fußsohlen klatschen gegen Badeschlappen dazu. Die Haut jedes Einzelnen ist die Entschuldigung aller. Nicht: Ich friere. Sondern: Wir schwitzen. Das Ich-du-er-sie-es des Winters ist ausgetauscht gegen ein Wir-ihr-sie.

Weil sie dem kollektiven Körper nicht mehr ausweichen kann, ist aus Sicht meiner Nachbarin, einer eigensinnigen Ästhetin, der soziale GAU eingetreten. „Überall Haut“, ruft sie. „Gucke ich nach oben, sehe ich schwitzende Köpfe, schaue ich geradeaus, sehe ich fette Bäuche, wende ich meinen Blick nach unten, sehe ich die Beine von Kerlen in grasgrünen Socken.“ Sie übertreibt. Ihre Auswahl ist subjektiv. Sie sieht überall nur Männer. Die hasst sie. Das schwächt ihre Argumentation. Dabei hat sie Recht, ein Relaunch des ästhetischen Gesamtkonzepts „nackter Mann“ wäre durchaus an der Zeit.

Die Nachbarin macht, was alle tun: Sie schaut den Leuten hinterher. Haut trifft das Reizschema. Selten war so viel davon zu sehen. Besser allerdings wäre sie dran, wenn sie es den Kerlen gleichtäte. Die schauen den Frauen nach und werden belohnt.

Da vorne im Auto, Friedrichstraße Ecke Unter den Linden zum Beispiel, da warten zwei Djangos an der Ampel. Es ist heiß. Das Verdeck offen, dennoch kann Fahrtwind ihre erhitzten Gemüter nicht kühlen. Schon gar nicht, als vor ihnen ein Fräulein die Straße überquert. In synchroner Manier folgen ihr die Augen von unten nach oben. Die Beine des Fräuleins: Makellos. Danach bleibt der gemeinsame Blick am Rockbund der Frau hängen. Glänzend vom Schweiß lugt deren Bauch leicht darunter hervor. Auf die Sekunde genau wandern die Blicke der Männer zu ihrer Brust. Beim Synchronspringen müsste die Übereinstimmung lange trainiert werden. Nicht so bei 35 Grad.

GenießerInnen schwelgen und schweigen. Braun gebrannt. glatt rasiert, frisch trotz der Hitze fliegen für sie die Frauenkörper wie Schmetterlinge seit Wochen über den Horizont.

Einmal allerdings, vor Lekkerbek war das, da fielen zwei Bauarbeiter aus der Rolle, als eine junge Mutter ihren Kinderwagen vorbeischob. Zuerst starrten sie auf die stämmigen Beine der Frau. Dann wandten sie ihre Köpfe nach oben zum muskulösen Bauch, der vor einem Bustier Halt machte, das die beiden sehend überwanden. Nichts war zu holen für sie. „Haste gesehen“, sagte der eine zum anderen, nachdem die Frau um die Ecke gebogen war „wie das linke Kinderwagenrad eiert?“