: Der schmale Grat der humanitären Hilfe
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen stellt nach der Ermordung von fünf Mitarbeitern ihre Arbeit in Afghanistan ein
Seit 2003 sind in Afghanistan über 30 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ermordet worden. Nach jedem Anschlag fragen sich die Organisationen, ob sie den Einsatz ihrer Mitarbeiter dort noch verantworten und wie sie diese besser schützen können. Der Mord an fünf Mitarbeitern von Ärzte ohne Grenzen Anfang Juni in einer bis dahin sicheren Nordprovinz war besonders schockierend, weil die Helfer gezielt ermordet wurden. Die Organisation setzte die Arbeit aus, berief ihre internationalen Mitarbeiter ins sicherere Kabul und analysierte die Lage. Die Ergebnisse sind niederschmetternd.
Denn der Fall zeigt, dass die Arbeit der Hilfsorganisationen in Afghanistan nicht nur von den Taliban gefährdet wird. Die gerieten schon zu ihren Herrschaftszeiten mit Hilfsorganisationen aneinander. Mal warfen sie ihnen Spionage vor, mal verderbtes Gedankengut, zu missionieren oder Handlanger ausländischer Interessen zu sein. Doch konnten viele Hilfsorganisationen auch zu Taliban-Zeiten in Afghanistan arbeiten, darunter Ärzte ohne Grenzen, wenn auch unter Schikanen.
Nach ihrem Sturz und dem Beginn ihres Guerillakrieges gegen die Regierung in Kabul und die US-Truppen erklärten die Taliban auch Helfer zum Angriffsziel. Denn diese würden zum Erfolg der Regierung und damit des „Krieges gegen den Terror“ beitragen. Oder umgekehrt: Wo keine Helfer aktiv sind, ändert sich nichts und wenden sich die Menschen von der Regierung und den US-Amerikanern ab.
Dieser Logik folgen auch die Amerikaner, die ihrerseits die Hilfsorganisationen zu instrumentalisieren versuchen. Am deutlichsten wird dies in dem von Hilfsorganisationen kritisierten Konzept der bewaffneten regionalen Wiederaufbauteams. Denn in diesen militärisch-zivilen Teams leisten nicht nur bewaffnete Soldaten Hilfsdienste, sondern werden auch Hilfsorganisationen zum Teil einer militärischen Befriedungsstrategie. Damit verwischen die Grenzen zwischen beiden Formen.
Auch warben US-Truppen auf Flugblättern damit, dass Personen, die ihnen Informationen über die Taliban geben, später mit humanitärer Hilfe belohnt werden. Das US-Militär untergräbt mit dieser Strategie die Neutralitätspflicht humanitärer Hilfsorganisationen und gefährdet damit die Helfer.
Eine weitere Gefahr geht vom Umfeld der afghanischen Regierung aus. Zwar brüstete sich ein Talibansprecher nach dem Anschlag rasch mit der Tat und bezeichnete ausgerechnet die Hilfsorganisation als US-Handlanger, die mit am heftigsten das Konzept der Wiederaufbauteams kritisiert hatte. Doch Ärzte ohne Grenzen erhielt nach eigenen Angaben von Regierungsvertretern glaubwürdige Beweismittel, dass vielmehr lokale Kommandeure regierungsnaher Milizen hinter den Morden stecken. Gegen sie wurde jedoch nicht vorgegangen.
Noch ist Afghanistans Befriedung nicht völlig gescheitert. Doch der Fall von Ärzte ohne Grenzen zeigt, wie schmal der Grat der Hilfsorganisationen inzwischen sein kann. Wenn sie von drei Seiten gefährdet werden, ist es nur konsequent, die Arbeit einzustellen. Das trifft die Bevölkerung, doch eine Hilfsorganisation kann nur dort arbeiten, wo sie es auch verantworten kann. Jetzt genau diese Grenzen aufzeigen zu müssen, ist die Tragik von Ärzte ohne Grenzen.
SVEN HANSEN