: Keine Zeit für Windelwechsel
Kindergarten schickt Dreijährigen nach Hause, weil er noch in die Hose macht. Begründung: Die Erzieherin müsse sich um 19 andere Kinder kümmern. „Das geht nicht“, sagt das Sozialressort. Mehr Personal für die Kitas gibt es aber auch nicht
Bremen taz ■ So war das mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz nicht gedacht: Weil er noch Windeln trägt und nicht aufs Töpfchen geht, darf ein dreijähriger Junge aus dem Viertel jetzt nicht mehr in den Kindergarten gehen. Bis zu den Herbstferien, so das Angebot des städtischen Kindertagesheims Humboldtstraße an die Eltern von Jonas (Name geändert), solle ihr Spross eine Schonfrist bekommen – vorausgesetzt, sie würden den Wickeldienst an drei Tagen selbst organisieren. Sei das Kind nach sieben Wochen immer noch nicht trocken, müsse es aus dem Kindergarten genommen werden, deuteten die ErzieherInnen an.
Das sei nicht im Sinne des öffentlichen Arbeitgebers, so die Sprecherin von Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD), Heidrun Ide. „Kein Kind kann gegen den Willen der Eltern nach Hause geschickt werden, weil es noch nicht trocken ist.“ Grundsätzlich gelte: Die Erzieherinnen sollen sich dem Hilfebedarf des Kindes anpassen.
Bisweilen ist das leichter gesagt als getan. Wickelstress gibt es vor allem dann, wenn eine Erzieherin alleine für 20 Kindern zuständig ist. Muss eines davon die Windel gewechselt bekommen, bleiben 19 andere ohne Aufsicht – „ein Dilemma“, wie eine Kindergärtnerin weiß: „Eine zufriedenstellende Lösung gibt es da nicht.“ Manche ErzieherInnen sprinten zwischen Waschraum und Spielzimmer hin und her, andere rufen die Köchin oder eine Kollegin aus einer anderen Gruppe zu Hilfe. Bisweilen können auch PraktikantInnen einspringen. Selbst die aber sind inzwischen rar, weil niemand mehr ErzieherIn werden will. Bei den evangelischen Kitas etwa ist derzeit jeder dritte Praktikums-Platz unbesetzt.
Nicht nur zum Wickeln, sondern auch für eine bessere Betreuung und Förderung der Kindergartenkids fordern etwa der Gesamtelternbeirat der städtischen Kindertagesstätten und die Grünen schon seit langem eineN zweiteN ErzieherIn für jede Kita-Gruppe – Kostenpunkt: rund 11 Millionen Euro pro Jahr. SPD und Sozialressort verlangen daher nur noch nach einer „Zweitkraft“. Im Koalitionsvertrag aus CDU und SPD wurde daraus ein „schrittweiser Einstieg“ – immer vorausgesetzt, dass sich bei den Haushaltberatungen Geld dafür findet. Kommentar einer Erzieherin: „Damit ist doch alles gesagt.“
Dabei nimmt der Bedarf an Betreuung nicht ab, sondern zu. Immer jüngere Kinder werden bei den Kitas angemeldet. Viele kommen nicht mehr erst zu Beginn des neuen Kindergartenjahres im August, sondern bereits direkt nach ihrem dritten Geburtstag. Und jedes zehnte Kindergartenkind – so schätzen Experten – geht noch nicht regelmäßig aufs Klo, selbst Vier- oder Fünfjährige machen bisweilen noch in die Hose. Früher lehnten die Kindergärten es ab, solche Kinder aufzunehmen. Heute geht das nicht mehr: Wer drei Jahre alt ist, hat einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz – Windel hin oder her.
Kindergärten in kinderreichen Gebieten können versuchen, vor allem ältere Kinder aufzunehmen. Andere drängen darauf, die Kurzen mögen sauber sein, bevor sie abgegeben werden. So auch in der Humboldtstraße: Wickeln sei „nur übergangsweise“ zu leisten und „nur wenn gleichzeitig eine Sauberkeitserziehung stattfindet“, sagt Kita-Leiterin Ulla Linnecke. Diesem kindergärtlichen Programm wollten Jonas’ Eltern ihren Sohn allerdings nicht aussetzen. Für den heißt das: Zurück zur Tagesmutter.
Armin Simon