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Archiv-Artikel

berliner szenen Am Winterfeldtplatz

Von 8 bis 9 Uhr

Um 8 Uhr beginnt am Winterfeldtplatz das gute Leben. Die Cafés machen auf, das endlose virtuelle Band von bestellten, gefüllten, an Tische getragenen, ausgetrunkenen, wieder abgeräumten und abgewaschenen Latte-Macchiato-Gläsern und Milchkaffeeschalen kommt ins Rollen. Allerdings rollt es zunächst sehr langsam. An diesem Dienstag sieht das gute Leben zu dieser Stunde noch wie ein Liberté-toujours-Plakat aus – bevor die Kameras klicken und man dabei cool aussehen muss.

Im Wesentlichen sitzen also Männer allein am Tischchen, haben ihren Blick an die Zeitung geheftet und tunken ihr Croissant in den Kaffee. Die Freundinnen jeglichen Alters, die sich später gegenübersitzen, endlos reden und dem Straßenabschnitt etwas Sex-and-the-city-Mäßiges (in der Lo-Fi-Version) geben werden, fehlen noch. Die kommen später. Um 8.40 Uhr trifft allerdings schon mal eine Vorhut ein: zwei Österreicherinnen mit dem Willen zur Kommunikation. Die Männer rascheln kurz irritiert mit ihren Zeitungen.

So bleibt Zeit, die Presseberichte über die in diesem Jahr besonders aggressiven Wespen zu bestätigen (Aprikosenmarmelade im kleinen Tim’s-Frühstück) und kurz über das gute Leben nachzudenken. Lieblingsthese: In der Schöneberger Variante hat das immer noch etwas Trotziges. Man hat wenig Geld, Probleme im Job, mit der Beziehung und dem Nachbarn – und will trotzdem gut leben. Wenn das Dispoende naht und das kulturelle Anschlussprojekt auf sich warten lässt, heißt das noch lange nicht, dass man sich mit schlechtem Wein zufrieden gibt. Bestimmt glauben hier noch manche Anwohner, das gute Leben sei Rache am System. DIRK KNIPPHALS

(9 bis 10 Uhr: kommenden Freitag)