Mein Opa Müller

„Weiße Geister“ (heute, 22.42 Uhr, Arte): Martin Baers sensible Dokumentation über einen Herero auf der Suche nach seiner Familie

VON JENNI ZYLKA

Einer der wichtigsten Sätze fällt irgendwo in der Mitte des Films: Die Deutschen wurden entnazifiziert, aber nicht entkolonisiert. Vor 100 Jahren rotteten die deutschen Kolonialherren den Stamm der Herero in „Südwest- Afrika“, dem heutigen Namibia, fast komplett aus. Nur wenige entkamen und überlebten den Völkermord. Der Filmemacher und Kameramann Martin Baer hat einen Film über Israel Kaunatjike gemacht, einen 56-jährigen Herero, der seit 30 Jahren in Berlin lebt.

Seine Dokumentation führt Baer zusammen mit Kaunatjike nach Namibia, und bei der Suche nach dessen Familiengeschichte setzt sich der Berliner Filmemacher auch mit seiner eigenen familiären Vergangenheit auseinander. Warum er als Afrikaner denn so hellhäutig sei, hatte Baer Kaunatjike anfangs gefragt. Er findet die Antwort im Laufe des Films, in dem er sich der blutigen Geschichte der Deutschen in Namibia vorsichtig und zielstrebig immer mehr annähert.

Zum Vernichtungskrieg gegen die Herero hatte der deutsche General von Trotha Anfang des letzten Jahrhunderts aufgerufen. Grausam und gnadenlos machten sich die Soldaten über die „Eingeborenen“ her, und im Zuge der Unterwerfung der Herero entstanden eine Menge Zwangsverbindungen zwischen deutschen Soldaten und Herero-Frauen: Einer solchen gewaltsamen Beziehung entstammt auch Israel Kaunatjike. Seine Hellhäutigkeit ist also auf deutsche Vorfahren zurückzuführen, sein Großvater war ein Herr Müller. Den Spuren dieses unbekannten Opas versucht Kaunatjike nun in Namibia nachzugehen.

Baer hat, genau wie in seinen letzten, sensiblen Filmen zum Thema Deutschland/Afrika, auch für „Weiße Geister“ lange und ausführlich in Archiven, Büchern und Schriftstücken gewühlt. Er montiert erschreckende Schrift- und Bilddokumente von Marsch- und Mordaufrufen der Regimente zwischen O-Töne von afrikanischen und deutschen Historikern, die die Funde untermauern und erklären. Immer wieder berichtet er im Off-Text offen von seinen Eindrücken, seinen Gefühlen als Deutscher in Namibia, der aus Verständigungsgründen anfangs stets auf die Rolle des stummen Kameramanns reduziert ist. So begleitet Baer Israel Kaunatjike bei dessen Suche nach Menschen, die seinen deutschen Opa kannten, vielleicht sogar mit ihm verwandt sind. Dabei findet Baer auch einen Teil seiner eigenen, mit Afrika verwobenen Historie wieder: Einem seiner Verwandten gehört eine Farm, und der deutsche Viehzüchter fürchtet die Landreform im erst seit 14 Jahren unabhängigen Namibia.

Wieder in Deutschland verfolgt Baer die Geschichte der Herero weiter, die 100 Jahre nach dem Völkermord noch immer nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen zu sein scheint. Nach wie vor wird der Völkermord, den die Deutschen an den Herero begangen haben, weder als historischer Fakt behandelt noch als Handlungsbedarf angesehen: Ein völkerrechtlicher Anspruch auf finanzielle Entschädigung wird nicht akzeptiert, so formuliert es Uschi Eid, die Afrika-Beauftragte der Bundesregierung, gegenüber Baer.

Muss ich mich eigentlich entschuldigen, fragt Baer sich und den bedächtigen Kaunatjike am Ende seiner bis ins Detail ausführlich recherchierten und klar strukturierten Dokumentation. Der schüttelt den Kopf. Nicht du, sagt er, die Regierung müsste das tun. Die hat allerdings bis jetzt nur einen Beschluss zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrieges verabschiedet. Nach Wiedergutmachung klingt das noch lange nicht.

Martin Baer gelingt eine Gratwanderung zwischen persönlicher Betroffenheit, Erschrecken und Objektivität. Zusammen mit einem Film über deutsche Misionare in Afrika wird „Weiße Geister“ heute beim viel zu spät angesetzten Arte-Themenabend an eine Zeit vor 100 Jahren erinnern, die man nicht vergessen darf.