: Goldmarie und Blechmarie
Nach ihrem fünften Platz offenbart Claudia Gesell mathematisch zweifelhaftes Geheimwissen, während die Siegerin Maria Mutola alle Vergleiche mit Herrn Kratochvil kategorisch ablehnt
aus Paris FRANK KETTERER
Claudia Gesell war außer Atem und ein bisschen auch enttäuscht. Nun stand sie, noch den Schweiß der Anstrengung auf der Stirn, in der Mixed Zone im Bauch des Stade de France, dort, wo Athleten und Sportler nach den Wettkämpfen aufeinander treffen, um ein paar Worte zu wechseln, und versuchte ihre Enttäuschung hinter Zahlenspielen zu verbergen: „Fünfte ist Fünfte und nicht Letzte“, rechnete die junge Frau aus Tirschenreuth vor und addierte gleich noch einen drauf: „Und immer noch besser als Vierte.“ Der Satz offenbarte keineswegs eine eklatante Schwäche in den Grundrechenarten, sondern sollte ein Spaß sein: Mit Platz vier hätte Claudia Gesell die mögliche Medaille im 800-m-Finale bei der Leichtathletik-WM in Paris schließlich noch knapper verpasst, Platz vier ist überhaupt der undankbarste aller Plätze. Ein bisschen war das Galgenhumor von Claudia Gesell; dass die Realität anders aussieht, weiß die 25-Jährige schon auch. „Eine Medaille wäre schön gewesen, alles andere ist nur Blech“, fasste sie ihr Wissen in Worte.
Immerhin: Claudia Gesell war hier in Paris die einzige deutsche Läuferin in einem Finale der letzten acht, allein das ist schon bemerkenswert. Dass es dann doch nicht mehr wurde als Rang fünf, wird sie gegrämt haben, schließlich gilt die junge Frau als äußerst ehrgeizig. Im Training, das von jeher von ihrem Vater Horst geplant und geleitet wird, bürdet sie ihrem schmalen Körper bisweilen eher zu viel auf als zu wenig, manchmal sogar mehr, als er vertragen kann. Niedergeschlagen hat sich dies in den letzten Jahren in so mancher Verletzung. Kaum eine Saison, die die Diplom-Sportlehrerin wirklich beschwerdefrei überstanden hätte. Dass sie prinzipiell Talent für Großes in sich trägt, ist dennoch unbestritten: Juniorenweltmeisterin war sie 1996, U23-Europameisterin vor vier Jahren.
Auch in Paris war die Möglichkeit durchaus vorhanden, sich noch ein Stückchen weiter hineinzuschieben in die vorderste Weltspitze, zumal Stefanie Graf, die Medaillenkandidatin aus Österreich am Renntag in eine Glasscherbe getreten war und passen musste. „Das Rennen war nicht so schnell und eigentlich optimal für mich“, befand auch Gesell. Möglichst lange innen wollte sie laufen, so hatte sie es sich vorgenommen, und wurde dann doch schnell nach außen gedrängt. „Bei 500 m hatte ich eine Riesenrangelei mit der Marokkanerin“, ließ Gesell den Rennverlauf Revue passieren, die halbe Kurve dauerte der Kampf Schulter an Schulter an. „Ich wollte auch nicht nachgeben und habe dagegen gehalten“, erzählte die Deutsche – und dabei zu viel Kraft gelassen. Als es aus der Kurve wieder hinausging und auf die Zielgerade, eigentlich Gesells stärkster Streckenabschnitt, spürte sie, wie plötzlich „die Energie weg“ war. Bei 2:01,84 blieb die Uhr für sie stehen, das hat sie in dieser Saison schon deutlich besser gemacht; ihre 1:58,89 vom Sportfest in Rom in Juli hätten hier in Paris sogar Gold bedeutet.
Doch das ist blanke Theorie. In der Praxis hätte Claudia Gesell nicht gewinnen können, denn dazu hätte sie schließlich Maria Lourdes Mutola schlagen müssen – und das geht nicht. Die Läuferin aus Mosambik ist in dieser Saison nämlich unschlagbar. Der Gewinn ihres dritten WM-Titels war der 17. Sieg in Folge für die Olympiasiegerin – und doch war er mehr oder weniger nur Durchgangsstation für das Rennen danach, von dem Mutola sagt: „Es wird das härteste meines Lebens.“ Sie meint damit das letzte Golden-League-Meeting in Brüssel. Noch ein Sieg dort, und die Frau aus Mosambik hat den Jackpot geknackt: 50 Goldbarren, Wert: eine Million Dollar.
Sie, das ehemalige Straßenkind aus Maputo, wird das Geld gut anlegen, schon vor einiger Zeit hat sie die „Maria Mutola Stiftung“ gegründet, für die sie zehn Prozent ihres Einkommens abgibt. Jährlich vier sportlich talentierten Jugendlichen aus ihrer Heimat wird es damit ermöglicht, in Eugene zu studieren und zu trainieren. Das ist die eine Seite der Läuferin, ihre weiche. Die andere sticht ins Auge, wenn man sie laufen sieht: mächtige Arme, ein mächtiges Kreuz, ein mächtig-markantes Kinn – und selbst die FAZ, ansonsten nicht bekannt für unbedachte Andeutungen, kann sich bei Mutola eine Bemerkung wie diese nicht verkneifen: Mannomann, was für eine Frau.
Das mag ein bisschen ungerecht sein, weil wirkliche Hinweise, dass bei Frau Mutola etwas nicht stimmen könnte, nicht existent sind. Andererseits hat man in der Leichtathletik schon so manches erlebt, gerade bei den 800 m der Frauen. Der Weltrekord über diese Distanz steht seit genau 20 Jahren bei 1:53,28 Minuten, gehalten von der Tschechin Jarmila Kratochvilova. Kratochvilova war ein Doping-Monster: Dass sie nach Rennen nie gemeinsam mit ihren Konkurrentinnen unter die Dusche gehüpft sein soll, brachte ihr bei Reportern schnell den Namen „der Herr Kratochvil“ ein.
Maria Mutola ist auch hier in Paris nach dem Weltrekord von Herrn Kratochvil befragt worden und ob sie den nicht angreifen möchte. Mutola hat geantwortet: „Das ist zu schwer für mich und scheint mir fast unmöglich. Aber ich bin ja auch eine Frau.“