: Lügenland ist abgebrannt
Bis heute lassen sich die meisten Journalisten von den US-Militärs erklären, wie die Lage im Irak ist. Stattdessen sollten sie lieber selbst authentische Informationen recherchieren
Sie nannten sich Journalisten, aber benahmen sich wie Soldaten. Ausgerüstet mit kugelsicheren Westen, Helmen und Panzerbrillen spielten sie Rommel und Montgomery wie in billigen Hollywoodproduktionen. Es wurden Tausende von Euro in Gasmasken, Bekleidung und Überlebenskurse investiert, um die Journalisten für den amerikanischen Propagandakrieg im Irak kampfbereit zu machen.
Nun ist die militärische Auseinandersetzung vorbei und es ist an der Zeit, dass sich die Journalisten wieder standesgemäß verhalten. Zugegeben, die Lage im Irak ist nicht stabil, und wie die Ereignisse der letzten Tage zeigen, sind auch Journalisten oder UNO-Funktionäre keineswegs sicher vor Anschlägen. Dennoch lässt sich mit einer gewissen Vorsicht und gesundem Menschenverstand durchaus authentisch berichten.
Doch: Viele Berichterstatter aus Bagdad haben es gerne bequem. Jeden Morgen der Gang zum Public Affairs Office (Medienbüro) der US-Armee und die Fragen: „What’s up, Al?“ (Was gibt’s, Al?) Und der antwortet fast immer das Gleiche: Zwar seien ein amerikanischer Konvoi von „übrig gebliebenen Saddam-treuen Baathpartei-Anhängern“ angegriffen, wieder mal ein US-Soldat getötet und einige GIs verletzt worden. Aber „wir haben alles unter Kontrolle“.
Nur am 23. Juli hatte Al Sensationelles zu berichten. Ein Kommando von Spezialeinheiten hätte ein Haus in Mossul, Nordirak, überfallen und bei dem Gefecht Saddams Söhne Udai und Kusai getötet. Zunächst wurde gesagt, ein „enger Verwandter“ habe die Brüder verraten.
Ein paar Tage später hieß es dann „off the record“, dass es sich bei dem Verwandten um einen Cousin Saddams, Marwan Zeidan, gehandelt habe, in dessen Haus die Söhne überrascht wurden. Inzwischen soll der Mann die 30 Millionen Dollar als Kopfgeld kassiert haben und in den USA unter einer neuen Identität leben. So haben die Amerikaner die Geschichte erzählt und so wurde sie der Öffentlichkeit verkauft. Hätte man sich jedoch die Mühe gemacht, in Mossul zu recherchieren, wäre man auf andere Informationen gestoßen.
Mossul ist untypisch für den Irak. Im Gegensatz zu anderen Städten, wo die diversen Religionen und ethnischen Gruppen in getrennten Vierteln wohnen, leben in Mossul Sunniten, Schiiten, Araber und Kurden nebeneinander. Besonders im Stadtteil al-Fallah sind viele reiche Sunniten und Kurden zu Hause. Marwan Zeidan, eine der reichsten und schrillsten Figuren Mossuls, hat hier eine Villa und mehrere kurdische Familien als Nachbarn, die der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) angehören. Meine Recherchen ergaben: Nicht Zeidan, sondern kurdische Nachbarn haben die Amerikaner über den Verbleib von Saddams Söhnen informiert.
Laut Augenzeugenberichten verhafteten US-Spezialeinheiten in Begleitung eines kurdischen Kommandos Zeidan, seine Frau und ihren 19-jährigen Sohn und stürmten die Villa. Der Angriff mit Raketen und Kampfhubschraubern dauerte über vier Stunden. Geborgen wurden die Leichen von Saddams Söhnen, einem Enkel und einem Leibwächter. Dies ist die Version, die auch die Bürger Mossuls für authentisch halten, da die Augenzeugen aus unterschiedlichen Volksgruppen stammen.
Der irakische Journalist Haider Chaled sagte im Gespräch: „Es war niemals Zeidan. Nach so einem Verrat hätte weder er noch seine Familie die Rache des irakischen Volkes überlebt. Vaterlandsverrat ist schlimm als solches, aber mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten ist noch viel schlimmer.“
Zurzeit richten Iraker geradezu systematisch Landsleute hin, die mit dem US-Militär kollaborierten. Im Dorf Thuluja etwa musste Ahmed Kidwai Ende Juli seinen ältesten Sohn Kerbal hinrichten, da aufgrund seiner Auskünfte die 82. Airborne Division eine Razzia im Dorf durchgeführt hatte. Es kamen vier Iraker ums Leben, weitere 400 wurden festgenommen. Kerbal sollte die Terroristen unter den Verhafteten identifizieren. Trotz Maskierung erkannten die Dorfbewohner ihn wieder. Sie stellten Kerbals Vater vor die Wahl: Entweder richte er seinen eigenen Sohn hin oder die ganze Familie würde umgebracht. Die Amerikaner verschwiegen den Vorfall und verweigerten der Familie jegliche Hilfe.
Dies ist keine Überraschung, denn für die GIs ist jeder Iraker ein Terrorist, und ein Terrorist weniger ist immer gut. Es ist ein surreales Gefühl, einen Soldaten vor der laufenden Kamera zu haben, der so einfach sagt: „Wir schlachten diese Mutterschänder … Wir gehen den Hurensöhnen nach und knallen sie ab.“ Die Panik und die Frustration in seiner Stimme sind nicht zu überhören, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass seit dem 1. Mai 2003, also seit dem von Präsident Bush verkündeten Kriegsende, im Irak 57 US-Soldaten ums Leben gekommen sind – offiziell.
Diese Zahl wird ununterbrochen durch die Medien verbreitet. Doch mit einem Berechnungstrick umgeht es das Pentagon, die wahren Zahlen nennen zu müssen: In seinen Statistiken tauchen nur Soldaten auf, die im Kampf gefallen sind. Andere Todesursachen wie Selbstmorde oder Ertrinken werden nicht berücksichtigt. Die korrekten Zahlen sind im Übrigen kein Geheimnis, sondern für jeden auf der Webseite des Irak Coalition Casualty Count zugänglich.
Danach sind bislang 117 amerikanische Soldaten seit der Beendigung des Krieges ums Leben gekommen. Insgesamt sind 166 Amerikaner in diesem Krieg gefallen, das sind 19 mehr als im letzten Golfkrieg. Zählt man aber die Todesfälle durch Unfälle und Selbstmord mit, so steigt die Zahl bis gestern auf 280 an.
Die Angaben der Verletzten werden ebenfalls regelrecht manipuliert. Das Pentagon gibt als Anzahl der seit Beginn des Krieges Verletzten 827 an. Das US-Militärhauptquartier in Katar zählt hingegen 926 Verletzte. Wenn man Lt. Col. (Oberstleutnant) Allen Delane, dem zuständigen Offizier für Empfang der Verletzten auf der Andrews Air Base in den USA, Glauben schenkt, sind die Zahlen weit von der Realität entfernt. „Aus Sicherheitsgründen darf ich Ihnen keine genauen Zahlen nennen. Aber ich kann bestätigen, dass über 4.000 Soldaten hier behandelt worden sind. Wenn man die Verletzten, die wir aus Platzmangel nach Reed und Bethseda verlegt haben, mitzählen würde, würde die Zahl auf ca. 8.000 ansteigen“, sagte Delane. Wäre die wahre Zahl der Toten und Verletzten bekannt, würde die Moral in der Armee noch schlechter sein, als sie ohnehin schon ist.
Und was weiß die Öffentlichkeit von den 248 Toten und 8.000 Verletzten?
Dass in Bushs Amerika der Großteil der Medien kapituliert hat und es aus Feigheit nicht wagt, die Wahrheit ans Licht zu bringen, ist eine traurige Realität. Ein falsches Wort in Rumsfelds Pressekonferenzen, und man ist draußen. Warum es jedoch viele Journalisten hierzulande nicht wagen, mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten und Ressourcen eine andere Irakberichterstattung zustande zu bringen, ist nicht nachvollziehbar. ASHWIN RAMAN