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Archiv-Artikel

Taumeln mit Chris und Claudia

Der erste Schlagermove in Essen zauberte ein Grinsen in verhärmte Gesichter – die Hamburger Kitschparade ist endlich zuhause angekommen

Vielleicht ist heute der Tag, an dem die Schlager-Versprechen in Erfüllung gehenWo sonst soll man denn feiern, wenn nicht hier im RuhrgebietEs dauert nicht lange, da weicht das Hartz IV-Grimmen langsam aus den Gesichtern

AUS ESSENBORIS R. ROSENKRANZ

Schlagerfans fahren Zug. Zwecks Stimmungssteigerung nehmen sie gerne mal ein, zwei Schoppen zur Brust. Im Regionalexpress nach Essen sitzen daher gleich die ersten Grazien, in Erblindung garantierenden Klamotten, Lieblingsfarbe: bunt, und schlürfen Sekt aus Plastikbechern, was angesichts ihres Musikgeschmacks äußerst authentisch erscheint. Dazu wird, wie man so sagt: geklönt. Über dies und das, über die Arbeit, die Liebe, das Leben, kurzum: über Schlager, der ja ein Konglomerat dieser Zutaten ist. Und wenn man so klönt und schlürft, ist man doch verflixt schnell in Essen. Da geht‘s dann raus, rechts die Treppe runter in den Bauch des Bahnhofs, wo die Männer jäh verstummen, als sie der Damen ansichtig werden. Die wiederum saugen gierig Blicke, denn vielleicht ist ja heute endlich der Tag, an dem die ganzen Schlager-Versprechen in Erfüllung gehen. Eine neue Liebe ist eben wie ein neues Leben – daran klammern sich die Menschen. Und der Schlagermove ist, so prangt es jedenfalls auf den Plakaten, ein „Festival der Liebe“. Also hin zur Grugahalle, dem Startpunkt der Parade, wo kurz vor Beginn bereits Platten von Rex Gildo und Bata Illic durcheinander dudeln und Männer, die aussehen wie die unehelichen Kinder von Uwe Hübner und Rudolph Moshammer, irgendwas von „subbär Stimmung“ und „alle gut drauf“ verzählen.

Andernorts ist das knallbunte Getöse mittlerweile zu einem begehrten Event avanciert. Und was gut läuft, wird gerne adaptiert, so dass der Umzug in diesem Jahr aus dem schönen Hamburg importiert wurde, wo er seit sieben Jahren regelmäßig über die Reeperbahn rollt. Vor vier Wochen, beim Schlagermove in der Hansestadt, tanzten rund 300.000 Menschen neben dem 36 Lastwagen langen Zug. Dass in Essen nur magere 41.000 Besucher sieben Trucks flankieren sollten, liegt vor allem daran, dass Hamburg so eng mit dem Schlagermove verbunden ist, wie Berlin mit der kürzlich beigesetzten Loveparade. Das Halligalli ist hier groß geworden, ist hier zuhause, zählte aber im Geburtsjahr auch bloß schlappe 50.000 Besucher – also kaum mehr als heuer in Essen. Im Gegensatz zu den Techno-Jüngern versuchen es die Schlagermover aber wenigstens, ihr Fest in einer anderen Region anzusiedeln. Dass dafür Essen auserkoren wurde, hat freilich Gründe. Für Mariana Kautz, die Pressefrau der Schlagerei, liegen sie auf der Hand: „Wo sonst soll man denn feiern, wenn nicht hier im Ruhrgebiet?“, fragt sie so verdutzt, dass man gar nicht nachgefragt haben will. Ja also, bitteschön, wo denn auch sonst? Aber: Warum ausgerechnet Essen? Auch einfach, denn die größte Ruhrgebiets-Stadt wollte den Schlagermove unbedingt haben, und hat sich deshalb emsig darum bemüht. Vermutlich, weil Essen bald Kulturhauptstadt genannt werden will und die Politiker sich wahrscheinlich dachten, dass da auch urdeutsches Kulturgut dazu zugehört, hier im Ruhrpott, den Haarverbrecher Wolle Petri als seine vermeintliche Heimat besingt.

Wolle ist allerdings nicht in Sicht, als sich der Tross um vier Uhr träge in Bewegung setzt, um hernach die Menschen an der knapp fünf Kilometer langen Route zu beglücken. Auf den Trucks tanzen derweil besinnungslos Menschen gegen die schroffe Wirklichkeit und einige C-Promis an, wie beispielsweise die singende Zweckehe Claudia und Chris Roberts. Er, Chris, hat früher mal eine böse Attacke mit dem Titel „Du kannst nicht immer siebzehn sein“ geträllert, weshalb ihm die Frauen eigentlich heute noch böse sein müssten. Sind sie vielleicht auch, bis auf eine: Seit 16 Jahren ist Chris nämlich mit ein und derselben verehelicht, mit Claudia, die übrigens ganz toll die Lippen spitzen und dabei „Huhu“ rufen kann. Das macht sie jetzt die ganze Zeit. Etwa vier Stunden wird Claudia Roberts „Huhu“ vom Wagen rufen, dazu ein feinmaschiges Fischernetz der Farbe Pink tragen und darunter zwei Brüsten nachempfundene Plastiken, die Claudia fortwährend über die Reling hält.

Aber das gehört zum Schlager eben untrennbar dazu: Herzeigen, was man hat, auch wenn es so vorgegaukelt und künstlich ist wie die Texte, die man seit zig Jahren in ZDF-Mikros lügen darf. Claudia Roberts steht ihre Branche quasi ins Dekolleté geschrieben, eine Branche, in der sie immer siebzehn sein muss, obschon sie das (siehe oben) natürlich nicht kann. Und Schlagersänger Chris hat sich mit der Zeit zu einem florierenden Werbeunternehmen entwickelt. Vom Truck schleudert er Autogramme, er schüttelt Hände, grinst, raucht, grinst – wie im Internet: „Chris Roberts fährt Subaru“ steht da neben einem Foto, auf dem der Barde zu erkennen ist, wie er neben einem Subaru steht, einen Subaru-Schlüssel angrinst, der ihm gerade von einem Subaru-Verkäufer aufgenötigt wird. Und nächste Woche geht‘s bestimmt weiter: Mit Claudi ein Möbelhaus eröffnen. Irgendwo in der Walachei, was aber durchaus machbar ist, schließlich fährt Herr Roberts einen – na, Sie wissen schon.

Den Bürgern auf den Steigen ist die lebende Soap-Opera auf den Trucks aber egal. Sie lieben diese Welt, durch die knallrote Gummiboote schippern, in der Olaf Henning als gut aussehend, Bata Illic als guter Sänger gelten darf und in der alles, aber wirklich alles bricht, nur niemals nie die Liebe nicht. Die Menschen schwimmen im blumigen Taumel der Parade, lüften Hände, werfen wahnsinnige Blicke. Und es dauert nicht lange, da weicht das Hartz IV-Grimmen aus den Gesichtern und lässt sich widerstandslos von einem dicken Grinsen ersetzen. „Das ist unsere Disco-Phase“, kichert die 53-jährige Erika und tippelt so wild mit dem Fuß, als suche sie Spuren im Sand, die sie gestern noch fand. Etwas weiter stehen ein paar Männer und Frauen zusammen, alle über 50, und warten darauf, dass ihre Vergangenheit als Autokorso an ihnen vorbeizieht, damit sie hernach sagen können: Nä, wat war dat schön damals. Eine der Frauen zuppelt in freudiger Erwartung an ihrem Rock, der, wie sie sagt, „so richtig 70er“ sei. Was er auch ist, aber trotzdem noch getragen wird.

So sieht das aus in Essen, wenn der Schlager aus muffigen Kneipen befreit wird. Das ist, muss man doch sagen: ganz nett. Das Schönste am Schlagermove sind aber die Sonnenbrillen, mit denen eine (natürlich deutsche) Zigarettenfirma die Schlager-Fans überschüttet. Die gelben Gläser dieser Brille lassen das Ruhrgebiet aussehen wie auf gelbstichigen Fotos. Das beruhigt ungemein nach so viel Plastik und Schlager und Halligalli. Hossa.