: BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER Das Trottoir
Leerstelle (13): Ein Pflaster unter Bäumen. Nie ist es mehr gewesen als ein Fragment der Gartenstadt Frohnau
An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.
Randbebauung war das Wichtigste in dieser Stadt, das sah man vor allem von außen. Was in der Natur der Sache liegt, man sollte es sehen, alles braucht seine Grenzen. Eine Stadt braucht sie besonders, Städte definieren sich durch sie; keine war je so bestimmt davon wie das gedoppelte Berlin.
In dessen unklare Mitte, bepflanzt mit einem Bau, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, war man geladen, sich Überblick zu verschaffen, und sah sich getäuscht. Was sich unten ausbreitete, sah nicht aus wie zwei einander auf Leben und Tod widersprechende Halbheiten, eher wie ein üppiges Ganzes, dem eine launige Hand einen Strich durch die Infrastruktur gezogen hat, ziemlich breit. Die Stadtmitte war beiderseits zum Randgebiet erklärt. Von Einheit wurde nur im Ton der äußersten Verbissenheit geredet.
Aufwändige Grenzbebauung, überhoher Turmbau im Zentrum waren nur zwei von vielen, teils subtil arrangierten, Maßnahmen im Ostteil der Stadt. Der Westen bot properen Sozialbau, der Osten gut bewehrten Sichtbeton an. Der Westen sah sich als Insel (der Freiheit), Schaufenster (des Wohlstands) und Brückenkopf (der Marktwirtschaft), während der Osten gern gesehen werden wollte als das, was er weniger war: die unumstößliche Pforte zur Zukunft schlechthin. Am wirklichen Rand zu Brandenburg hin sah es beiderseits der Mauer überschaubarer aus, ländlich in jedem Fall.
Viel mehr als Wald findet sich nicht. Kaum mehr als ein in den Wald gesetzter Stadtplan, aber auch weniger nicht als eine Landkarte aus Wackersteinen und Moos. Das hat seinen Grund. Was hier noch ist, ist nie mehr gewesen als das: ein Fragment der Gartenstadt Frohnau – von Froher Aue abgeleitet – wozu es an dieser Stelle eben nicht kam. Die dafür 1905 gegründete Berliner Terrain-Centrale sah eine Zukunftsstätte von 300 Blöcken in 6.000 Parzellen von je 1.000 Quadratmetern für 30.000 glückliche Einwohner vor. Es sollte eine Ungleichung bleiben. Die Weihung des ehemaligen Stücks Stolper Heide zur Gartenstadt Frohnau erlebten die ersten am 7. Mai 1910: Bankiers, Fabrikbesitzer und gehobene Beamte. Im Lauf des Weltkriegs 1 stagnierte die Besiedlung. Hier nun ruht das unvollendete Projekt in Frieden. Hier finden Sie das Pflaster unter dem Strand und nur dort.
Für den Strand stehen metaphorisch drei Stufen. Sie führen zum Hubertussee, ein Gewässer, das dem äußeren Rand nach, der es mit Moder umfasst, eher die vorstädtische Abdeckerei verschluckt haben dürfte als Berlins verlorene Prachtbauten, die der Geschichtstourist von den schwarzweißen Reproduktionen der vorletzten Jahrhundertwende kennt. Zu der Zeit war hier tatsächlich bloß Wald, als Zone belassenen Urbestandes. Eine Niemandsvegetation, die den Stadtraum abheben konnte gegen das Umland, das nächst der Hauptstadt besiedelt war mit Schießständen, Irrenanstalten, Müllkippen, Rieselanlagen. Da hinein kragte der nördlichste Sporn des alten Westberlin, um den dann der Grenzstreif zu Hohen-Neuendorf einen Ellbogen gegen die Ostzone stemmte.
Seit 1978 steht der nach dem Fernsehturm zweithöchste der Stadt hier, berüstet mit der Richtfunkstelle D1-CI s 4-A-56/9285/9286 (hex) - 19030/37509/37510 (dez). Entschlüsseln können wir das, zugegeben, nicht. Wir wissen wenig mehr, als dass die Bundespost in 344 Metern oben eine abhörsichere Richtfunkstrecke nach Höhbeck in Niedersachsen betrieb über das feindliche andere Deutschland hinaus. Für solchen zerrissenen Zustand liegen stellvertretend die alten Straßenbänder aus, unbehaust, als ob eine neuartige Bombe die Aufbauten sauber vom Pflaster abgehoben hätte.
Die ersten Straßen trugen Nummern, keine Namen. Von 1922 bis 1930 unverfänglich Elisabethstraße genannt, hieß beispielsweise die spätere Franziskastraße ursprünglich Straße Nr. 18. Seit 1974 ist sie gestrichen aus dem Register, als hohle Schlängellinie durchzieht sie noch die dicht aufeinander folgenden Neuauflagen der Stadtpläne.
An den Kurven wuchern Bordsteinkanten aus der Erde, Laternensockel und die Schattenfurchen des vergebens ausgelegten Pflasters. Die verblichene Schraffur der Moosdecke zeigt es an unter den modernden Laubschichten der Jahre. Unter den Müllfladen der Anlieger, unter den Haufen ihrer Hunde, die sie hier ausführen. Wenn Sie die Scheiße von den Sohlen streifen wollen, werden Sie es entdecken: Wo Sie stehen, war einmal ein mit Berliner Schotter ausgelegter Bürgersteig gewesen. Wenn auch die Wohnblöcke fehlen, keine Fassaden das potemkinsche Trottoir kommentieren, egal; wenn auch die Waldstadt nur in der Projektierungsphase existierte, die Steige nur betreten werden von den Technikern am Großmast 4-A-56/9285/9286, wenn nur in der Fantasie – hier sollen sie verewigt sein.
THOMAS MARTIN