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Archiv-Artikel

Wozu der Lärm?

An der Metall verarbeitenden Industrie geht die Krise in der Musikbranche offenbar vorbei. Altbewährtes von harten Kapellen wie Motörhead, Metallica oder Iron Maiden hat ungebrochen Konjunktur und spült Geld in die Kassen der gebeutelten Plattenfirmen. Kein Wunder: Das Genre und seine verschworene Gemeinde sind wertkonservativ – und reaktionärer, als es etwa die Volksmusik jemals sein könnte

VON KLAUS RAAB

Es war die Band Anthrax, die 1987 einer der nachhaltigsten Choreografien dieser Zeit ihren Namen gab: Moshen. „Caught In A Mosh“ hieß der Song, mit dem sie das tat, ein Song vom Album „Among the Living“. Ins Deutsche übertragen wurde er von den Hörern als „Gefangen im Chaos“. Immer wollten die Mosher Chaoten sein oder zumindest so angesehen werden.

Und so äußert sich ihr Selbstverständnis performativ im Moshpit, der Tanzregion vor der Bühne: in wilden Bewegungen der Teilnehmer, die der korrekten Ausführung des Moshens halber unvermittelt ausscheren und sich gegenseitig in die Parade fahren, um sich dabei eins vor den Latz zu knallen. Der Anstrich von Unordnung und Gewalttätigkeit – das ist die passende Verkleidung für Heavy Metal, der als Gegenbewegung zur Hippie-Bewegung entstand, als die gerade abebbte.

Sogar für Love, Peace ’n’ Hippienesss und Batikshirts war eines Tages die Zeit gekommen, abzutreten. Ein paar Restfiguren der Zeit erscheinen hier und da noch heute in der Öffentlichkeit, aber die Protagonisten sind lange verschwunden. Die Hauptdarsteller des Heavy Metal jedoch blieben, als wäre es selbstverständlich. Bis heute. Mit ihrem damaligen Wertekanon, der damaligen Ästhetik und den damaligen musikalischen Koordinaten. Und auch das Moshen samt Pogotanz und „crowd surfing“ blieb; nur das Headbanging, ebenfalls ein wesentliches und konstitutives Element der Heavy-Metal-Performance, verschwindet immer weiter.

Als sich die Herren von Metallica, die letzten Zeitgeistorientierten des Genres, vor fast zehn Jahren die Haare abschnitten, taten es ihnen viele Anhänger des Genres und seiner Subgenres mit der Zeit nach. Headbanging is over, das war die Botschaft. Und mit dem Headbanging verschwand der Kopfbewegung gewordene Uniformitätsgedanke der Hardrock-Rezipientengemeinde.

Ansonsten aber unverändert, blieben Heavy Metal und der balladeskere Hardrock die ganzen Jahre über allein bei sich, im eigenen Koordinatensystem aus Jacky-Cola-Ästhetik und muskulöser Unbändigkeit. Im eigenen Musiknotationssystem aus Gitarrenriff und Stimmbandzerrung. Im eigenen Schubladensystem aus Dutzenden von Subgenres, die Black, Death, Grind, Industrial, Power, Speed oder True Metal heißen und nur für Laien unter Einfluss von Halbwissen mit Tendenz zur Ahnungslosigkeit absolut homogen wirken, nämlich laut. Dort, also bei sich, ist Heavy Metal heute noch – genau so, wie er seit der Generation nach Black Sabbath war, die als Erfinder gelten.

Von jeglichem Kreativitätsdruck befreit, spielen dieselben ahnenkultisch verehrten Bands wie vor 30 Jahren immer noch dieselben Songs wie eh und je. Solange sie Hörer haben, brauchen sie keine Erneuerung. Und das eigentliche Phänomen ist: Sie haben noch jede Menge Hörer.

Judas Priest, Iron Maiden, Motörhead, Scorpions heißen diese Bands, und keine von ihnen wurde nach 1975 gegründet. Von ihnen allen ist in diesem Jahr wieder etwas Neues erschienen. Auch von Bands wie Manowar, Slayer und Megadeth gibt es noch regelmäßig neue Alben. Die Scorpions zum Beispiel haben sich in ihrer Bandgeschichte sogar einen Ruf als Staatsband erarbeitet: einfach weil sie schon immer gehört wurden.

In Einheit mit David Hasselhoff werden die Scorpions immer die bleiben, die mit vertontem Hüttenkäse wie „Wind Of Change“ den Fall der Berliner Mauer musikalisch vorbereitet haben. Das ist 15 Jahre her. Wie alt die Scorpions jedoch in einer Szene, in der Innovation und Zeitgeist wichtige Urteilskriterien sind, schon 1982 galten, welch schlechten Ruf sie und ihre Musik schon damals hatten, belegt eine Episode, die der Feuilletonist Claudius Seidl aufgeschrieben hat. Ort des Geschehens: die Münchner Discothek P1. Der Türsteher, stud. phil. Jan Klophaus, stand da eines Abends vier Männern gegenüber, „die lange Haare hatten, was schon mal sehr gegen sie sprach; und was sie so an den Füßen und um die Schultern trugen, entsprach erst recht nicht dem hier herrschenden Geschmack; ein bisschen zu alt waren sie außerdem“.

Daher sei, signalisierte Klophaus, bezüglich des Einlasses nichts zu machen. Einer der Abgewiesenen sagte: „Wir sind aber die Scorpions.“ Die Antwort, so Seidl, war denkbar knapp: „Eben!“

Heavy Metal und Hardrock sind schon damals kaum mehr irgendwo aufgetaucht, wo man sich mit einer Musik beschäftigt, die den Ton der jeweiligen Zeit zu treffen scheint. Doch wären Pop- und Rockmusik eine demokratische Veranstaltung, die jungen Bands, die seit einiger Zeit von der Fachpresse als „Retter des Rock“ gefeiert werden, hätten vielleicht keine Chance gegen Heavy Metal und Hardrock. Die Rede ist von Bands wie The Strokes, dem Black Rebel Motorcycle Club, den Hives, den White Stripes oder Franz Ferdinand: Bands, die jedes Musikmagazin auf dem Titel hatte, weil sie sich von all dem verabschiedeten, was ihnen am Rock vor ihrer Zeit nicht gefiel, und die ihn neu auferstehen ließen.

Die Rettung des Rock hieß, aus der sehr heterogenen Großgattung Rock dies und jenes auszusortieren und dann zu erneuern. Das musste bedeuten, so zu tun, als hätte es Hardrock und Heavy Metal nie gegeben. Weil sie nicht erneuerbar sind: Ihr konstitutiver Kern besteht in der Konstanz, was Musik, Wertekanon und Ästhetik betrifft. Und die ist unvereinbar mit dem Rock der heutigen Zeit: Die Strokes treten die Vision des Hardrock mit Füßen, eine Gitarre – im Heavy Metal als phallisches Symbol zu verstehen – müsse als Arbeitsgerät technisch perfekt beherrscht und ausgebeutet werden.

Die White Stripes halten der Manneskraftsymbolik des Heavy Metal eine Genderdebatte in Form eines Frauenanteils von 50 Prozent entgegen. Bei Franz Ferdinand finden sogar Frisuren statt. Die archaischen Strukturen der schon vor 20 Jahren alten Genres Heavy Metal und Hardrock wurden bei der Rettung des Rock, bei einem Aufbruch in die Gegenwart, bei einer Weiterentwicklung im Sinn des zeitgeistigen Geschmacks, einfach nicht beachtet.

Die historisch relativ kurze Episode des Punk mit seinem eher dilettantischen Instrumentverständnis beeinflusste die Ideen hinter dem neuen Rock mehr als das ausgeprägte Aufstieg-durch-Leistungs-Denken des Heavy Metal. Keine von all den erfolgreichen Rockrettern dieser Jahre hat viel von dessen Symbolik und Semantik übernommen.

Ausnahme sind The Darkness, die letzten Sommer einen bereits wieder verebbten Hype erlebten. The Darkness moshen, ziehen sich inakzeptabel an, singen mit Kopfstimme und haben lange Haare – es sieht aus wie Heavy Metal. Nur tun sie all das weniger affirmativ als ironisch. Heraus kommt vorübergehend ganz witziges Kasperletheater, das aber nicht Heavy Metal ist, weil der sich nun gar nicht mit Ironie vertragen mag. Heavy Metal funktioniert nur, wenn er ernst gemeint ist.

Und wirkt so wie eine historische Dokumentation über die Gegenwart. Man zehrt dort von den alten Geschichten über die alten Idole: wie Ozzy Osbourne 1982 auf der Bühne einer Fledermaus den Kopf abbiss; wie stolz Lemmy Kilmister von Motörhead auf seine Warze ist; wie die Band Anthrax, zu deutsch: Milzbrand, sich fast umbenennen musste, weil Milzbrand heutzutage irgendwie umstritten ist.

Es sind amüsante Geschichten, und Heavy-Metal-Fans werden sie noch ihren Enkeln erzählen. Heavy Metal ist in Dezibel gemessene Langfristigkeit. Und wenn wir in einem Seniorenstift des Jahres 2050 aus dem Nebenzimmer einen Song von Whitesnake hören, die im September mit ihrem Best-Of-Programm aus 25 Jahren Bandgeschichte durch Deutschlands größte Hallen touren, vielleicht werden wir dann anerkennend feststellen können: Heavy Metal ist der Sound des 20. Jahrhunderts, der sich am besten gehalten hat.