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Archiv-Artikel

la vie parisienne FRANK KETTERER über Gedanken in Krisenzeiten

Abgang der Altvorderen

Bittere Tränen hatte es bereits am frühen Morgen gegeben im Stade de France, und vergossen wurden sie von einer, die man sonst stets nur fröhlich lächelnd kennt, zumindest bei Wettkämpfen. Diesmal aber hatte Astrid Kumbernuss, gehandicapt von einer Verletzung in der Kniekehle, die Kugel nur 17,83 m weit gestoßen und war damit ausgeschieden. Im Vorkampf! Traurig ist das, sehr traurig, weil sie sich doch wieder ein Jahr so geschunden hatte – und zuletzt so gut in Form gefühlt. Umso größer war die Enttäuschung bei der 33-Jährigen – und natürlich bei den deutschen Funktionären.

Sie hatten die dreimalige Weltmeisterin und Olympiasiegerin aus Neubrandenburg fest einkalkuliert in ihren ansonsten eher dürftigen Medaillenplanungen. War ja auch eine sichere Bank, Kumbernuss hatte doch immer eine Medaille gewonnen. Jetzt aber war ihnen auch noch diese Hoffnung geplatzt wie eine Seifenblase. Weh tut das all den Verantwortlichen eines Landes, dem langsam die Leichtathleten von höherem Rang ausgehen und somit die Medaillen, in deren Glanz sich die Funktionäre so gerne sonnen. Vor allem weh tat das aber Astrid Kumbernuss. Sie sagte: „Ich bin froh, wenn mich jetzt einer in die Arme nimmt.“ Der Kollege von der Stuttgarter Zeitung hat das sofort zu seinem Lieblingssatz erklärt. Er ist ein sehr kluger Kollege.

Vielleicht hätte sich der Diskuswerfer Lars Riedel zur Verfügung stellen sollen. Bestimmt kann frau sich in seinen starken Armen prima geborgen fühlen und beschützt, gerade in Stunden des Schmerzes. Und dabei hätte Lars Astrid tief in die feucht glänzenden Augen schauen können und sagen: „Hey, ich weiß, wie weh das tut, glaub mir. Aber es geht vorbei.“ Schließlich hat auch Riedel in Paris eine Enttäuschung erlebt, wenn auch eine etwas kleinere: Zum sechsten Mal Weltmeister wollte er werden mit der fliegenden Scheibe, auf Platz vier ist er geendet. Danach hat der Hüne zwar tapfer gelächelt, aber tief in sich drin wird er schon auch eine kleine Träne verdrückt haben. So wie Astrid eben.

Dass nun von tiefer Krise gesprochen wird, wenn die Rede kommt auf Leichtathletik in Deutschland, kann den beiden gewiss nicht angelastet werden. Sie haben über Jahre hinweg Leistungen der Extraklasse vollbracht – und Medaillen in Serie gesammelt. Vielmehr ist es so, dass Ausnahmeathleten wie Riedel und Kumbernuss – auch die bei der WM wegen einer Verletzung fehlende Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler muss man dazuzählen – den Deutschen Leichtathletik Verband (DLV) schon in der Vergangenheit vor schlimmeren Pleiten bewahrt haben mit all ihren Erfolgen. Nun, da diese ausbleiben, tritt offen zu Tage, was Kritiker schon seit geraumer Zeit befürchten: Es stimmt was nicht im Hause DLV.

Das mag einigermaßen traurig sein. Noch trauriger aber ist, dass sich mit dem Scheitern von Kumbernuss und Riedel endgültig das Ende einer Ära abzeichnet, die eine große war und äußerst goldene. Die beiden sind hier in Paris die letzten Helden des DDR-Sportsystems, und dass die Krise ausgerechnet jetzt beginnt, da ihre Medaillen ausbleiben, ist nicht wirklich ein Zufall. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass auch der Geher Andreas Erm (27) seine ersten Schritte noch im Arbeiter-und-Bauernstaat gesetzt hat. Erm hat in Paris Bronze über 50 km Gehen gewonnen, erst die zweite deutsche Medaille überhaupt.

Es ist in der jüngsten deutsch-deutschen Vergangenheit viel geschrieben und geredet worden über das Sportsystem der DDR, das natürlich seine Schattenseiten hatte – man denke da nur an das dunkle Kapitel des flächendeckenden Staatsdopings –, aber eben auch eines der weltbesten Sportschul- und Fördersysteme.

„Ohne diese Förderung wäre ich heute nicht da, wo ich bin“, glaubt Andreas Erm, der 14 war, als Deutschland zum einig Vaterland wurde. „Das System war nicht so schlecht, wie es heute manchmal gemacht wird“, hat er noch gesagt. Lars Riedel nickt da nur – und fügt an: „Ich habe nicht verstanden, warum ein Land wie Deutschland nicht versucht hat, einen Großteil der Sportschulen im Osten und die damit verbundenen Erfahrungen und Fördermöglichkeiten zu erhalten.“ In Zeiten der Krise lohnt es sich, darüber nachzudenken. Auch wenn es natürlich eigentlich zu spät dafür ist.