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Archiv-Artikel

die graue welt

ja, früher, vor dreißig, vierzig jahren, war so vieles anders. die werte, die sitten, die sozialen normen, einfach alles: es regierte die jugend, die schönheit, die blüte. altsein war ein schimpfwort, jungsein schick. mit vierzig jahren galt man bereits als ausgebrannt, mit fünfzig als ruine, mit sechzig als tot. lange her. heute, im jahr zweitausendsechsunddreißig kaum mehr vorstellbar

von MARC DEGENS

heiliger bimbam, deutschland stinkt wie ein suppenhuhn! „weiter!“ auf rebeccas befehl springt der fernsehkanal von rtl98 auf mtv um. im hologramm hüpfen und hopsen fünf jungs. sie heißen nick, brian, a.j., howie und kevin: die fünf nennen sich die backstreet boys.

„ihh, das ist doch der zombiesender! rebecca, schalt um!“

„nein, warte. ich seh gern solche alten musiksendungen. das ist manchmal richtig grusel.“

„bah, guck mal! die singen ja noch mit dem mund! voll terror! los, rebecca, mach das weg! das ist widerlich!“

ausnahmsweise hört rebecca auf ihren klon.

„weiter! – weiter! – weiter! weiter! weiter! weiter! weiterweiterweiter! großer gorilla, das ist ja total aasend! immer nur wiederholungen! aus!“ das hologramm verschwindet.

für die deutsch-niederländische republik werden keine neuen sendungen mehr produziert. warum auch? tag und nacht zeigen die fernsehsender spielfilme und aufzeichnungen von neunzehnhundertschnee. der marktführer grau-tv („die ältesten filme aller zeiten“) wirbt seit kurzem sogar mit dem slogan „alles schon gesehen“. der zuschauer ist eben könig, quote rules!

„wollen wir was spielen?“

„o ja. fall-out! fall-out!“ rebeccas klon springt von der aerocouch, klatscht in die hände und tanzt im kreis. „fall-out! fall-out! fall-out!“

„nein! das macht zu viel dreck! außerdem kommen in vier tagen mama und papa von der arbeit.“

rebeccas mutter arbeitet auf dem mond, rebeccas vater ist zahnarzt und pastor und krillbäcker. eine typische bastelbiografie für einen mittzwanziger. seit die rechts-oben-regierung vor zwei jahren die hundertfünfunddreißig-stunden-arbeitswoche eingeführt hat, sehen sich rebeccas eltern nur noch selten. meist verbringt rebeccas mutter ihre pausen auf dem mond.

in drei jahren aber haben rebeccas eltern endlich urlaub, sie reisen dann in die sonne. volle vierundvierzig stunden ausspannen, die beine und arme ablegen, schmoren, einfach nichts tun. und ein kind zeugen. rebeccas eltern haben bereits die pläne angefordert.

es wird ein boy: jan-rupert-isedor. jan-rupert-isedor ist groß, zweimeterzwanzig, schmal und schmächtig, linkshänder, hat graublaue augen, strohblondes haar und ein phänomenales zahlengedächtnis. er mag fruchteis, die ghuls, planktonburger und alles, was blau ist. seine hobbys sind fliegen, lesen, kaken töten. jan-rupert-isedor ist vollkommen unmusikalisch, dafür aber extrem sprachbegabt, er glaubt an die götter und wird immer oben wählen. das erste wort, das er sagen kann, ist „uroma“: darauf hat sein urgroßvater bestanden.

seit rebecca ein paar lbds von jan-rupert-isedor gesehen hat, kann sie die ausstoßung ihres bruders kaum mehr erwarten. nur einen planeten wünscht sich rebecca noch sehnlicher – sie ist auch schon fleißig am sparen.

„wollen wir in die altstadt, uroma und uropa besuchen?“

„au ja, alieneinfall! ich zieh mir nur noch was schützendes an, schon kann es losgehen!“

rebecca und ihr klon sind zwei herzen und eine seele.

fest untergehakt schweben die beiden eine viertelstunde später vor die tür. zwanzig meter über ihnen spielt cash, der nachbarsjunge, mit seinem klon. der klon sieht ziemlich mitgenommen aus: ihm fehlt ein auge, mehrere finger und zehen, er hat kaum noch zähne und nur noch ein bein. cash sieht die zwei, winkt und düst herunter.

„na, ihr iksen. wolln wir eine runde tackern?“

rebecca grinst, ihr klon versteckt sich hinter ihrem rücken.

„lass das, cash! darüber macht man keine witze! und ihh, dein klon sieht ja ganz schön zerrupft aus. du brauchst wohl bald wieder einen neuen?“

„si! gestern hab ich mir ein bein abgesägt. jetzt muss ich immer auf ihn warten.“

cash schaut nach oben und lächelt, rebeccas klon wagt sich aus seiner deckung.

„du solltest dich was schämen, cash! wir klone sind doch keine ersatzteillager!“

„was denn sonst? hä? arbeiten dürft ihr ja auch nicht! wärst du mein klon, würde ich mir jetzt ein ohr abschneiden.“

cash imitiert eine schneidebewegung, rebeccas klon fängt an zu heulen. rebecca nimmt seine hand und zerrt ihn fort.

„das reicht jetzt, cash, wir gehen! grüß deine mütter.“

„war doch bloß ein gag!“

rebecca und ihr klon gleiten zur ecke und nehmen das nächste flugzeug. rebecca besitzt ein monatsticket, ihr klon fliegt schwarz. das risiko, erwischt zu werden, ist allerdings gering, diese linie wird fast nie kontrolliert.

im flugzeug sitzen ausschließlich steinalte leute, hauptsächlich verhutzelte vetteln mit versmogten wollkappen oder durchsichtigen regenhauben. dabei hat es zuletzt vor vierzehn jahren geregnet! weil der einzige kinder- und erwachsenensitz von einem wacklig-welken mütterchen besetzt wird, müssen rebecca und ihr klon während des flugs hinten am druckschott stehen.

an der nächsten station steigt ein mummelgreis mit einer horde zwergelefanten ein. rebeccas klon ist ganz verzückt.

„o, sind die süß! so einen hätte ich auch gern.“

„was! weißt du nicht, was die fressen?“

baader-/ecke schilystraße springen die beiden ab. hier beginnt die altstadt. in dieser gegend ertönt in den kaufhäusern musik, und die leute dürfen in den straßen essen und rauchen. eine apotheke reiht sich an die nächste.

die fußgängerzone ist ein silbergraues meer. rebecca und ihr klon schieben sich durch den seniorenstrom, sie kommen nur langsam voran. vor k&t werden sie von einem gesetzeshüter angehalten. der schutzmann richtet misstrauisch seine hände auf die beiden.

„halt, stopp, keine muskelzuckung – oder ich muss euch zerpulvern! so, wen haben wir denn da! müsst ihr zwei nicht auf der arbeit sein?“

„aber nein, werter herr polizist, wir sind doch erst acht.“

„na und – in eurem alter war ich schon orthopäde! also, was habt ihr hier zu suchen?“

„wir wollen unsere uroma und unseren uropa besuchen. sie wohnen dort hinten neben dem reaktor.“

„das kann ja jeder sagen. also, speichel her! wird’s bald!“

rebecca und ihr klon spucken in seine hände. der polizist kontrolliert die absonderung, ohne den blick von den beiden abzuwenden.

„so so, du wirst also kolonistin. nun gut, ihr dürft weiter.“

rebecca und ihr klon huschen eilends davon, der schreck steht ihnen immer noch ins gesicht geschrieben.

als kind haben ihre eltern immer damit gedroht, dass rebecca, wenn sie nicht artig sei, später beim staatsdienst anfangen müsse! als polizistin, beamtin, richterin. das auge des gesetzes, grausam, nur hochleistungssportler sind noch ärmer dran!

vor dem raketenschacht tummelt sich eine senile menschenschar, kein durchkommen, keine kirsche kann zur erde. ein glatzköpfiger methusalem verscherbelt facettenaugen. rebecca und ihr klon zwängen sich durch die altertümer und lauschen seinen anpreisungen.

„liebe damen, liebe herren, vertrauen sie mir! ich bin eine ehrliche haut: dieses facettenauge, dieses so genannte komplexauge sieht tatsächlich sechzigmal besser als ein herkömmliches. glauben sie mir, probieren sie es aus! ich verspreche ihnen, sie werden die welten in neuem licht erblicken.“

der kahle entfernt die plastikfolie von dem facettenauge, hält es in die menge und wedelt damit herum.

„wahrlich, es ist eine offenbarung! was, das soll meine frau sein? – und die umrüstung ist greisenleicht. ich schwöre, nein, ich demonstriere es ihnen.“

im handumdrehen hat der verkäufer sich seines linken augapfels entledigt, er schmeißt ihn auf den kunstbeton und zerquetscht ihn achtlos mit einem seiner gesundheitslatschen. dann nimmt er das facettenauge und setzt es sich in die leere schwarze augenhöhle. insgesamt dauerte die vorführung nicht länger als ein staatsstreich, wuppdich! – und wird am ende mit tosendem applaus belohnt.

sie sehen, es ist ein kinderspiel, versprochen! also, meine damen, meine herren, treten sie näher und kaufen sie, kaufen sie, kaufen sie!“ die greise zücken ihre kreditdaumen, umlagern den glatzkopf und überschütten ihn mit fragen.

„gibt es die auch mit röntgenblick?“

„wenn ich zwei nehme, wird es dann billiger?“

„kann ich damit auch hinten sehen?“

rebecca hat genug – und drängt ihren klon zum aufbruch.

„ach, warte doch noch, rebecca. wollen wir uroma und uropa nicht auch so ein auge mitbringen?“

„instantsuppe! die setzen das doch sowieso nie ein. das kommt dann wieder in irgendeine schublade und verrottet. wie der delfin, den mama und papa ihnen zum veteranentag geschenkt haben.“

„aber der war auch kaputt!“

„der war gar nicht kaputt!“

„doch! der konnte nur griechisch.“

„linksruck! sie hätten einfach das sprachmodul umstellen müssen. komm jetzt!“

kurze zeit später stehen rebecca und ihr klon vor dem altenkrater ihrer urgroßeltern. rebecca starrt in den türmelder. das lasergitter verschwindet, rebecca und ihr klon betreten den hausflur. da die treppe kaputt ist, müssen sie das katapult nehmen. siiiiiiit, schon sind die beiden unten im vierunddreißigsten stock. die zwei laufen den flur hinab, rebecca schnippt mit den fingern. es dauert einige zeit, dann hören sie aus dem inneren der wohnung eine vertraute stimme. rebeccas uroma kreuzt die arme und lässt die tür verschwinden.

„ach, hallo rebecca, kind! das ist ja schön!“

rebeccas uroma umarmt den klon, rebecca starrt sie ungläubig an.

„aber äh, uroma, ich bin doch rebecca.“

angewidert stößt rebeccas uroma den klon zur seite und schließt rebecca in die arme.

„ach, kind! das ist ja schön, dass du deine alte uroma und deinen uropa besuchen kommst. tritt ein.“

rebeccas uroma kreuzt die arme und schließt die Tür.

„du hast glück, kind, wir sind auch gerade erst angekommen. mein opa und meine oma feierten heute nämlich polonium-hochzeit. stell dir vor, fünfundneunzig jahre sind die zwei jetzt schon verheiratet – und immer noch so verliebt wie in den ersten siebzehn jahren.“

aus dem küchenklo marschiert rebeccas uropa und erschrickt, als er die beiden besucher entdeckt.

„sandra, wer ist denn da?“

„ach, holger, hast du deine ohren schon wieder nicht auf? es ist deine urenkelin.“

„wer?“

„rebecca.“

„welche?“

„die von den pfisters.“

„ach ja! guten tag, rebecca.“

rebecca geht einen schritt auf uropa zu und macht einen knicks.

„hallo, uropa, wie geht es deinem magen?“

rebeccas uropa krempelt seinen kimono hoch.

„guck, ich hab ihn gestern abgegeben. nächste woche krieg ich einen neuen.“ rebeccas uroma schreitet dazwischen und ohrfeigt ihren mann.

„das reicht jetzt, holger! äh, rebecca, lehn dich ruhig an. möchtest du vielleicht etwas trinken? einen quittensaft? oder etwas wunderwasser?“

„nein, danke. mein spender ist noch voll.“

rebecca besucht gern ihre urgroßeltern. die beiden haben immer zeit, sind nett und aufmerksam und überhäufen rebecca mit geschenken. und manchmal, wenn uropa gut aufgelegt ist, erzählt er von früher.

ja, früher, vor dreißig, vierzig jahren, war so vieles anders. die werte, die sitten, die sozialen normen, einfach alles: es regierte die jugend, die schönheit, die frische und blüte. altsein war ein schimpfwort, jungsein schick. in der öffentlichkeit amüsierte sich gemüse, kroppzeug raubte den erfahrenen die arbeitsplätze, ein ei zählte mehr als das huhn! mit vierzig jahren galt man bereits als ausgebrannt, mit fünfzig als ruine, mit sechzig als tot. küken suchten ihr heil in der erwerbssphäre, sie wollten schuften, malochen, rackern; es war ihr eigener wunsch!

und man spottete über die alt- und ausgedienten. sie wurden abgeschoben, verbannt und ausgelagert. in altersheime verfrachtet, in seniorenstifte, betreutes wohnen – aus dem gesichtsfeld, bloß weg von zu hause! dort sollten sie verdorren, verwelken, verschimmeln, in den sielen sterben. einsam, still und unbemerkt.

vierzig, manchmal fünfzig jahre haben sie am stück geackert, und dann –zack! – mit sechzig oder fünfundsechzig jahren wurden sie verabschiedet, entlassen, in rente oder pension geschickt, und mit einer schwulität, einem tropfen abgespeist. kein wunder, dass sie nichts mit ihrer freizeit anzufangen wussten. sie waren unerwünscht, kerkerten sich ein, schauten fern – fernsehen für die jungen – und verstanden die welt nicht mehr! ein, zwei, drei jahre vegetierten sie so dahin, dann gingen sie in die ewigen jagdgründe ein, verschwanden in der hölle, im himmel oder im nirwana – und die erben lachten sich ins fäustchen!

plötzlich kamen die söhne, die töchter, die enkel, die neffen und nichten und sonstwer aus ihren ritzen gekrochen, zerstückelten den nachlass und brachten ihn durch, verjubelten ihn, vernichteten ihn, heidiwitzka, schwuppdiwupps, in null komma nichts! es war eine ungerechte welt – bis zur zeitenwende!

dann spielten die alten nicht mehr mit! sie starben nicht länger, sondern wurden älter und älter und älter. das gesicht der gesellschaft veränderte sich, auf jeden jungmenschen kamen drei hochbetagte, grau dominierte die straßen und plätze. der bevölkerungsrückgang, das geburtendefizit, die steigende lebenserwartung, der medizinische fortschritt, vielleicht lag es auch an der vereinzelung, der individualisierung, an den neuen lebensgemeinschaften, egal. jedenfalls versteckten sich die alten nicht mehr, zogen sich zurück, scheu und verschämt – sondern gingen hinaus, eroberten die welt. das graue zeitalter begann, die diktatur der greise! denn es musste gehandelt werden: das kranken- und rentensystem stand vor dem zusammenbruch, die soziale marktwirtschaft, der generationenvertrag, alles, wofür sich die alten ein leben lang abgestrampelt hatten. und sie organisierten sich, gründeten parteien, gewannen wahlen, erließen gesetze: die schulpflicht wurde auf vier jahre verkürzt. das wahlrecht auf fünfzig hochgesetzt. wer als teenager keinen job hatte, wurde aus der gesellschaft ausgestoßen, zum mars geschickt!

nun hatte die jugend den alten zu dienen, rund um die uhr, und es gab viel zu tun. ärzte wurden gebraucht, apotheker, drogisten, pflegepersonal. „erst kommt die arbeit, dann das vergnügen“, so lautete die parole der zeit. die kindheit wurde abgeschafft, jeder jungmensch musste ran, sich rühren, betätigen, ohne pardon! doch es waren zu wenige, viel zu wenige, es fehlte an fachkräften, dienstleistern, leuten fürs grobe. man lockte ausländer nach deutschland, köderte gastarbeiter, versprach ihnen das blaue vom himmel, vergeblich. denn allüberall auf dem kontinent herrschten dieselben engpässe, es mangelte an jungen leuten, die republik schien am ende. erst als zweitausendzweiundzwanzig in den niederlanden die deiche brachen, das land überflutet und die bevölkerung nach deutschland evakuiert wurde, entspannte sich die lage wieder. alle niederländer, gleich welchen alters, mussten mit anpacken, produzieren und handeln – die neue kaste erwies sich als deutschlands segen! die renten und pensionen waren gesichert, und die alten können nun endlich ihren verdienten lebensabend genießen, auskosten, jeden tag eine butterfahrt.

die wirtschaft boomt. zahnersatz, haarteile, venenkissen, gummiwäsche … pausenlos schmieren die medien, die werbeindustrie den alten honig um den bart, forever old, eine siebenundachtzigjährige wird miss germany. und während die einen im luxus schwelgen, malochen die anderen ohne unterlass. tagein, tagaus, stunde um stunde. sie fühlen sich wie sklaven, manchmal begehren, mucken welche auf, vereinzelt kommt es sogar zu aufständen, doch die übermacht der alten ist einfach zu groß.

auch rebecca sehnt sich mitunter nach veränderungen, wünscht sich ein neues denken. haben die jungen nicht auch ein recht auf freizeit und wohlstand? gibt es denn keine alternative?

in solchen momenten lachen ihre urgroßeltern nur milde. „aber, kind, darüber musst du dir wirklich nicht deinen hübschen, kleinen kopf zerbrechen, dafür bist du doch noch viel zu jung. „holger hat recht. werde du erst mal so alt wie wir!“

MARC DEGENS, geboren 1971, lebt als Autor in Berlin. Er ist Herausgeber des Internetkulturmagazins satt.org und Mitglied der Band Superschiff ( www.superschiff.de ). Zuletzt erschien von ihm die Erzählung „Rückbau“ (74 Seiten, 6 Euro. Zu beziehen über: SuKuLTuR, Rembrandtstraße 11, 12157 Berlin)